Necroscope 8: BLUTFÜRSTEN (German Edition)
...
... Je länger Wran so dicht an dicht mit seinem Bruder in der Irrenstatt lebte und je näher er ihn sich betrachtete, desto deutlicher erkannte er in ihm das Zerrbild ihres Vaters, des alten Eygor Todesblick, das ihm aus Spiros Augen entgegenstarrte. Diesen Gedanken hütete er wohlweislich nicht allein vor den übrigen Wamphyri, sondern auch (oder gerade?) vor seinem Zwilling.
Nun?, meinte Spiro plötzlich, beinahe streitlustig.
Wran war einen Moment nicht auf der Hut gewesen, darum wiederholte er: Nun? Hast du mich etwas gefragt?
Das weißt du doch! Ich sagte, dass ich, wäre Canker ernsthaft verletzt gewesen, die Räudenstatt samt allem, was dazugehört, übernommen hätte. Darauf sagtest du ... nichts. Und dies allein scheint mir bereits eine Frage aufzuwerfen. Hast du womöglich etwas dagegen?
Wran zuckte mental die Achseln. Eigentlich nicht. Wer weiß, vielleicht leben wir beide schon viel zu lange in einer Stätte zusammengepfercht, sowohl in Turgosheim als auch in der Wrathhöhe. Wir haben uns doch schon immer mit dem Gedanken getragen, dass du eines Tages deine eigene Stätte haben solltest. Aber diese Siggi ... was für ein Weib! Würdest du sie etwa ganz für dich behalten wollen? Das ist ein bisschen selbstsüchtig, findest du nicht?
Oh? Sag bloß, du hast ein Auge auf sie geworfen? Spiros Gesichtsausdruck wurde noch verdrossener. Ich dachte immer, du hättest es eher auf Wratha abgesehen?
Abermals zuckte Wran die Achseln. Wratha wäre mir schon genehm, sofern man sie zähmen könnte. Aber hast du sie vorhin erlebt, als alles drunter und drüber ging? Oh, so wie sie aussieht, wie ein wollüstiges junges Mädchen von der Sonnseite, kann sie einen Mann schon zum Narren halten. Wenn sie allerdings in Zorn gerät ...
Seine Gedanken wanderten zehn, fünfzehn Minuten zurück, und vor seinem inneren Auge sah er noch einmal Wratha vor sich, wie sie oben auf der Kuppe des großen Felsens ausgesehen hatte in jenen Momenten, als sie ihren Angreifer über den Rand des Abgrunds drängte, um ihn in den Tod zu stürzen.
Ihr Wutschrei war zu einem regelrechten Gackern geworden, während sie sich in eine Hexe verwandelte, ihre Bestie vorwärts drängte und dem Tier befahl: Schnapp ihn dir! Pack ihn und dann schleudere ihn über den Rand des Felsens! Wratha hatte sich in ein Ungeheuer verwandelt; nicht allein ihre Stimme, auch ihr Gesicht und ihre Gestalt waren mit einem Mal monströs.
Wran hatte es schon einmal erlebt, desgleichen Spiro und Canker – aye, und auch Gorvi, wo immer er gerade stecken mochte. Das war jetzt ungefähr dreieinhalb Jahre her. Damals, in Turgosheim, hatte Lord Vormulac Giftkeim, genannt Ohneschlaf, die Wamphyri zu einer außerplanmäßigen Zusammenkunft in die düstere Vormspitze geladen. Außerdem war Wran bekannt, dass es Wrathas Vampiregel war, der so auf ihre Gefühle reagierte, ihr Entsetzen und ihre Wut, indem er seine Essenz in ihre Adern pumpte, nicht anders, als der Körper eines gewöhnlichen Sterblichen Adrenalin ausschüttet. Es war die Reaktion ihres Parasiten, um die Lady gegen jedwede Gefahr, die ihr bevorstehen mochte, zu wappnen. Die Wamphyri mochten zwar der personifizierte Schrecken sein, doch selbst sie, sogar Wran der Rasende, fanden die Veränderungen, die er in ihr bewirkte, grässlich:
Denn innerhalb von Augenblicken war das hübsche junge Mädchen in Wrathas Sattel verschwunden, und an ihrer Stelle saß eine ... hässliche alte Hexe!
Wratha war um mehrere Zoll gewachsen, spindeldürr und runzlig. Ihre Knochen streckten sich, und sie schien größer zu werden. Unter ihrer ledernen Rüstung nahm ihr blühendes Fleisch die bleierne Farbe der Lords an, ihre Wangen fielen ein, und ihr Gesicht wurde hager und schien binnen kürzester Frist zu altern. Ihr Nasenrücken trat scharf hervor, die Ränder wurden dunkel und feucht und die Nasenlöcher klafften auf. Die überlappenden Platten ihres ledernen Brustharnischs sackten in sich zusammen, als ihre Brüste schrumpften und zu schlaffen Zitzen wurden.
Am schlimmsten jedoch waren ihre Augen. Spiro mochte zwar den bösen Blick haben, doch dieser war nichts verglichen mit Wratha. Unter dem geschnitzten Knochenreif auf ihrer Stirn glommen Wrathas Augen wie glosende Höllenglut blutrot aus ihren Höhlen!
Unter den Wamphyri hatte es stets auch einige von gemischter Abkunft gegeben. Ihre Mutationen traten in vielerlei Gestalt auf, und ihre Wandelbarkeit gestattete eine endlose Vielfalt an Formen. Doch nur wenige
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