Necroscope 8: BLUTFÜRSTEN (German Edition)
Blesse hatte instinktiv gewusst, wo Nathan sich aufhielt. Allerdings funktionierte sein Talent in beide Richtungen: Blesses Koordinaten zeichneten sich so deutlich in Nathans Geist ab, dass dieser auf den Zentimeter genau sagen konnte, wo der Wolf sich befand.
Warte, sagte er und begab sich zu ihm.
Misha kam wieder zu sich, als er dort anlangte und sie auf den vom Mond und den Sternen beschienenen Gebirgssattel zwischen den Bergspitzen trug, wo Blesse und Grinser einander getroffen hatten, um sich eine Zeit lang auszuruhen. Denn mit dem Rudel, das sie unter sich aufgeteilt hatten, waren sie den ihnen zugewiesenen Pflichten nachgegangen und hatten das Treiben der Wamphyri im Auge behalten, nicht anders als Stutz jenseits des Großen Passes. Er hatte ebenfalls Wache gehalten, allerdings um einiges näher am einstweiligen Lager der Vampire aus Turgosheim – zu nah.
Nathan kannte die traurigen Einzelheiten noch nicht, als er seine Jacke auf einem flachen Felsblock ausbreitete und Misha daraufsinken ließ. Endlich begriff sie, wo – und in wessen Gesellschaft – sie sich befand und machte Anstalten, wieder aufzuspringen! Doch Nathan ließ sich neben ihr nieder, legte ihr den Arm um die Schultern und hielt sie fest.
»Du hast von ihnen nichts zu befürchten«, erklärte er. »Sie sind schon seit eh und je ›meine‹ Wölfe.«
»Deine Wölfe?« Sie bedachte ihn mit einem Blick aus dem Augenwinkel, ehe sie sich ängstlich wieder den Tieren zuwandte, die sie umringten. »Ich ... ich dachte immer, ich hätte es mir nur eingebildet oder es handle sich um einen Traum aus meiner Kindheit. Ich erinnere mich, einmal, da geschah etwas Merkwürdiges. Auf dem Grenzgebirge lag Schnee, und die Wölfe kamen von den Höhen herab, und du und Nestor ... ihr beide spieltet mit ihnen! Wir waren damals nur Kinder, und niemand sonst bekam es mit. Zu Hause erzählte ich es meinem Vater, und er lachte mich aus! Ich habe nie wieder darüber gesprochen. Später ... hielt ich es für einen Traum und dachte, es sei nie geschehen. Und mir ist, als hättest du damals auch mit ihnen gesprochen.«
»Es sind dieselben Wölfe«, erklärte ihr Nathan. »In unserer Welt leben sie lange – anders als in den Höllenlanden –, weil sie hier keine natürlichen Feinde haben, nicht in ihrer Heimat, in diesen Höhen.«
Seit Neuestem haben wir Feinde, entgegnete Blesse, indem er näher trottete und sich Nathan gegenüber auf die Hinterpfoten setzte. Und unsere Heimat, die Berge, gehört nicht länger uns allein. Onkel, Stutz ist nicht mehr!
Nathan blieb der Mund offen stehen. »Was? Stutz? Wie ...?«
Auch Grinser war näher gekommen. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, grinste er Misha an, wie er es stets zu tun pflegte. Das Ergebnis war, dass sie sich noch enger an Nathan schmiegte. Fröstelnd meinte sie: »Du sprichst tatsächlich mit ihnen!«
»Psst!« , brachte er sie zum Verstummen. »Das hier ist wichtig!« Und von Blesse wollte er wissen: »Was ist mit Stutz? Er hat doch die Höhen jenseits des Großen Passes inne, nicht wahr?«
Das hatte er, aye! Der unverkennbar weise Wolfsschädel mit der weißen Blesse, als sei das Fell dort von Frost gezeichnet, neigte sich zu einem Nicken. Er hat die Wamphyri beobachtet, jede ihrer Bewegungen, er und drei seiner besten Wölfe. Aus nächster Nähe ... aus viel zu großer Nähe, Onkel.
Nathan war entsetzt, ihm schwindelte. Das war zu viel für ihn. Erst seine Mutter, die er so sehr geliebt hatte, und dann der treue Stutz mit seinem borstigen Stummelschwanz. Er würde ihn nie wiedersehen ...
... Aber ich bin doch immer noch da, Onkel!, erscholl mit einem Mal Stutz’ Stimme in Nathans Geist. Für einen Augenblick brachte dies selbst den Necroscopen aus dem Konzept.
Aber wie kommt das?, wollte Blesse wissen. Anders hätten wir es doch gar nicht erfahren! Er ist unser Bruder. Unser Bruder, Onkel, so wie deine Mutter deine Mutter ist! Und er hat recht: Sie sind immer noch da!
Was auch sonst? Denn wie Nathan nur zu gut wusste, war der Tod ganz anders, als man sich ihn gemeinhin vorstellte.
Misha fröstelte nicht länger. Sie ließ ihren Blick in die Runde schweifen und betrachtete sich die grauen Brüder genauer, die den Felsen umlagerten, auf dem sie mit Nathan saß. Er sprach mit ihnen! Mit den beiden Anführern jedenfalls! Und Grinser hatte den Kopf schief gelegt und hing mit verschlagener Miene wie gebannt an Nathans Mund ... Der Ausdruck auf seinem Gesicht war beinahe menschlich.
Plötzlich fiel ihr
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