Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
Seegras zog. Doch mittlerweile waren die Zwillingsbrüder schon wieder reichlich nüchtern und hatten es ziemlich eilig. Der Knoten um seinen Hals saß nicht fest genug und löste sich, noch bevor Radu auf dem Grund aufkam. Von der Strömung erfasst, trieb er wieder nach oben, wurde mitgerissen und flussabwärts gewirbelt. Um Mitternacht kam er wieder zu sich. Er lag, von Tang umschlungen, in einer Flussbiegung, in der sanfte Wellen gegen weiß gewaschene Kiesel plätscherten, rücklings auf ein paar Ästen Treibholz. Die Schwellung an seinem Hinterkopf war so groß wie ein Hühnerei, doch abgesehen von einer Handvoll Kratzer und blauer Flecken war er noch in Ordnung, und nachdem er das Flusswasser erbrochen hatte, ging es ihm auch wieder besser. Er erinnerte sich ... nicht mehr an alles, was in jener Nacht geschehen war (nun, daran, dass er aus Rache getötet hatte, schon, an Bruchstücke geflüsterter Unterhaltungen, und er wusste auch noch, dass er niedergeschlagen und durchs Unterholz geschleift worden war). Vorerst jedoch genügte ihm dies. Was Radu im Augenblick am dringendsten brauchte, waren Schlaf und Wärme, damit die weiche Stelle an seinem Hinterkopf Gelegenheit hatte, wieder zusammenzuwachsen.
Es gelang ihm, ein Feuer zu entzünden. Er trocknete seine Kleider, zog sie wieder an und errichtete aus Farn und Gräsern eine Schlafstatt. Er schlief die Nacht durch und auch den größten Teil des folgenden Tages und versuchte, nicht mehr an seinen Vater und seine Schwester zu denken. Es fiel ihm nicht leicht, dennoch versuchte er es. Denn zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits beschlossen, sich von den Menschen loszusagen und in der Einsamkeit zu leben, einer jener Sonderlinge zu werden, die nur hin und wieder von den Bergen herabkamen, um nächtens an einem Lagerfeuer zu sitzen. Mit dem Unterschied allerdings, dass Radu wirklich ein Einzelgänger sein würde; er brauchte kein Lagerfeuer außer seinem eigenen und auch keine menschliche Gesellschaft.
Sein Leben lang war er den Brutalitäten seiner Mitmenschen ausgesetzt gewesen, und nach allem, was er wusste, würde es ihm bei keinem Stamm anders ergehen als bei den Szgany Zirescu. Damit war Radu für die Szgany der Sonnseite verloren und wurde zu einem Mann der Wildnis und der Berge. Er hatte weder Freunde noch irgendjemanden, für den er sorgen musste, nur sich selbst, und orientierte sich an der Sonne, dem Mond und den Sternen. Zum ersten Mal in seinem Leben war er frei.
Er zog umher, von Ort zu Ort, von Revier zu Revier, als gäbe es keine Grenzen, die der Rede wert wären, und führte ein Leben in der Wildnis, als habe er nie etwas anderes getan. Er wurde zu einem einsamen Mann, der stets dahin ging, wohin es ihm gerade gefiel. Er hinterließ keine Spuren, umging die Lager der Menschen und mied sie, wo er nur konnte. Vor allem jedoch schwor er, sich von den Szgany Zirescu fernzuhalten, denn ihm war klar, dass Blut fließen würde, sollte er je zu ihnen zurückkehren – entweder seines oder das ihre.
Es hatte ihm Spaß gemacht, seine Feinde zu töten; er hätte es sich leicht zur Gewohnheit machen können. Zwei der Seinen waren gestorben, und zwei der Ihren hatten dafür bezahlt. Das genügte; sollten Giorgio, Lexandru und Ion Zirescu und die Ferenczy-Brüder doch in ihrem eigenen Saft schmoren und ihr elendes Leben weiterführen, und wenn sie Radu für tot hielten, dann sei’s drum – dann war er eben tot, für sie zumindest.
Im Osten lagen die Gebiete der Szgany Hagi, der Szgany Tireni, der Mirlus, Lidescis und zahlreicher weiterer Sippen und Stämme. Oftmals kreuzte Radu die Pfade, auf denen sie zogen, und betrachtete ihre Grenzmarkierungen. Er vernahm ihr Geplapper und sah des Nachts den Widerschein ihrer Feuer, den tief ziehende Wolken über den Wäldern reflektierten; doch abgesehen davon hatte er nichts mit ihnen zu tun, und sie bemerkten ihn kein einziges Mal.
So wanderte er kreuz und quer durch die Wälder der Sonnseite, erklomm die Ausläufer des Gebirges bis hoch zur Baumgrenze und wandte sich nach Westen und erkundete die Pässe und Berghöhen. Ein Jahr lang, zwei, drei, war er allein, bis zu jenem Tag, als er eine riesige weiße Wölfin fand, die an einer Stelle, an der der Berghang nachgegeben hatte, im Geröll eines Erdrutsches feststeckte. Und das war wirklich eine merkwürdige Begebenheit ...
Radu war hungrig, und es wäre ein Leichtes gewesen, die Wölfin zu töten und aufzuessen. Auf seinen Wanderungen hatte er eine ordentliche
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