Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
der Fähigkeit, sich über seine Instinkte hinwegzusetzen. Er konnte »Nein!« oder »Später!« sagen, wenn ihn die normalerweise unwiderstehlichen, ererbten Triebe und Zwänge überkamen, von denen die Handlungen niederer Geschöpfe ausschließlich beherrscht werden. Und gerade weil er sein Tun und Lassen beeinflussen und kontrollieren konnte, war es möglich, auch auf ihn Einfluss und Kontrolle auszuüben.
Und so, wie Radu einst Singer abgerichtet hatte, erzog sein Egel nun ihn. Feinste fadenartige Fortsätze des Parasiten reichten bis in Radus Gehirn, und während Radu sich den langen Sonnseitentag über in seiner Höhle unruhig hin- und herwarf, »betrachtete« der Vampiregel, wobei er die Albträume, die seine Gegenwart hervorrief, geflissentlich ignorierte, gespannt Radus Traumgesichte. Und lernte daraus.
Und überlegte, wie er vorgehen sollte ...
Radu erwachte in der Abenddämmerung und war wieder ganz er selbst ... dachte er jedenfalls. Er streckte sich auf seinem Lager aus Heidekraut und stellte fest, dass seine Glieder viel geschmeidiger waren als zuvor. Sein Hals tat nicht länger weh, und auch seine Knochen schmerzten nicht mehr. Die ganzen Kleinigkeiten, die das Leben in der Einsamkeit mit sich brachte, waren wie weggeblasen. Rein körperlich fühlte er sich so wohl wie noch nie. Er war ein völlig »neuer Mensch«, ja mehr als das – und zugleich weniger.
In der Zeit, in der Radu sich erholte, entleerte er seinen Darm in eine angrenzende Kammer, die nahe des Eingangs von der Haupthöhle abzweigte; der Geruch seiner Exkremente sollte Kreaturen jedweder Art fernhalten. Das war sonderbar, denn so etwas hatte er bisher noch nie getan. Singer schon, hin und wieder, aber sie war ja auch ein Kind der Wildnis. Oder vielmehr, sie war es gewesen . Als Radu daran dachte, dass Singer nicht mehr war, trauerte er ein bisschen, solange er sich anzog.
Die kurze Hose aus zusammengenähten Tierhäuten wirkte viel zu weit an ihm; offenbar hatte er an Gewicht verloren. Aber er verspürte keinen allzu großen Hunger, jedenfalls nicht auf das, was er üblicherweise aß. Radus Sandalen schienen zu klein für seine Füße, und seine Jacke reichte nicht bis zur Hose und schloss auch nicht mehr ordentlich über seiner eingesunkenen Brust. Auf seinem Handrücken wuchs ein Streifen kurzer, dunkler Haare, der sich bis hinab zum Gelenk zog. Überrascht stellte er fest, dass er selbst an den Handflächen Haare hatte! Und auch seine Fingernägel waren länger als sonst, dicker, dunkler und vorne spitz wie Klauen.
Aber ... wie lange hatte er so dagelegen? Nun, anscheinend hatte er sich im Fieberwahn befunden! Die Veränderungen in ihm hatten doch gewiss länger als nur eine einzige Nacht gedauert. Aber offensichtlich handelte es sich um einen ganz natürlichen Vorgang – er hatte abgenommen, und seine Kleider waren zerknittert und etwas eingegangen und sein Haar und die Nägel ohne die normale Abnutzung ungehindert gewachsen. Aber es war ein heilsamer Schlaf gewesen, so viel war klar. Denn er steckte so voller Kraft ...
... an dieser Stelle wurde Radus Aufmerksamkeit von einem fernen, auf- und abschwellenden, vielstimmigen Geheul in Anspruch genommen, das von den Hochplateaus und Pässen widerhallte, als seine grauen Brüder hoch oben in den Bergen begannen, einem über den immer dunkler werdenden Himmel jagenden, prächtigen Vollmond ihre Gesänge darzubringen.
... Seine grauen Brüder?
Radu verschwendete keine Zeit damit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, denn nun richtete sein Eifer sich auf etwas anderes als menschliche Leidenschaften. Er empfand das Verlangen nach den Reizen der Wildnis, nach der Jagd und dem Töten. Doch wiederum gelüstete es ihn nicht nach dem Blut wilder Tiere, sondern nach dem ... seiner Artgenossen. Artgenossen? Zumindest war er einmal so gewesen wie sie! Und dort unten, in den Wäldern des Westens, befand sich das Gebiet der Zirescus.
Am Höhleneingang hielt er einen Moment inne, um an seinen Exkrementen zu schnüffeln. Es waren seine, gewiss, allerdings waren sie schwarz. Vom verdauten Blut des Kaninchens. Aber vielleicht war es auch die Essenz von etwas anderem? Von diesem Egel-Ding? War es das, von seinen Körpersäften verflüssigt und in schwarzen Kot verwandelt? Das konnte Radu nicht glauben. Doch andererseits, warum spürte er es dann nicht in seinem Innern, ein so großes Wesen? Stirnrunzelnd zuckte er die Achseln. Was geschehen war, war geschehen, und was vorbei war, war vorbei.
Weitere Kostenlose Bücher