Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
Gedanke: das Dach der Welt, ja! Aber ... Tibet? Weshalb zeigte seine Vision ihm eine Landschaft, die ausgerechnet in Tibet lag?
Der Schneesturm hatte sich mittlerweile etwas gelegt. Unter seinen Schenkeln spürte Harry das vertraute Flussufer ... und gleichzeitig fühlte er die eisige Kälte und sah vor seinem geistigen Auge eine Szene, die sich in unglaublicher Ferne, womöglich gar in der Zukunft abspielte. Doch Harry war der Necroscope und konnte damit umgehen, vielleicht sogar besser als Alec Kyle. Zu guter Letzt akzeptierte er, was er sah, und kämpfte nicht länger dagegen an. Zum Schutz vor den Schneeflocken beschirmte er die Augen mit der Hand und blickte genauer hin.
Dort draußen in der Einöde ... bewegte sich da etwas? Er machte sieben Personen aus, die – auf diese Entfernung nicht größer als Ameisen – im Gänsemarsch durch den Schnee stapften. Roboterhaft arbeiteten sie sich voran, wie Soldaten bei einem Übungsmarsch – links, rechts, links, rechts, links –, allerdings schlurfend und in einem ziemlichen Tempo. Die drei vorderen trugen rote Gewänder, desgleichen die drei, die den Schluss bildeten. Der Mann in der Mitte hingegen war ganz in Weiß gekleidet. Und wie aus unendlicher Ferne vernahm der Necroscope das Klingeln winziger goldener Glöckchen ...
... die Kälte wich, schwand innerhalb eines Augenblicks; unter ihm wirbelte der Fluss; Harry schwankte, als sei er betrunken, und seiner Mutter blieb gerade noch Zeit für ein einziges Wort – Junge! –, ehe Alec Kyles Talent ihn erneut übermannte.
Es hatte aufgehört zu schneien. Harry sah die sechs ... waren es Mönche? Und ein Novize? Wie zuvor marschierten sie einer hinter dem anderen durch die Schneewüste. Doch die ummauerte Stadt war nirgends mehr zu sehen; sie befanden sich jetzt an einem anderen Ort. Vor den Mönchen wuchs eine steile Klippe in die Höhe, darin das aus dem Fels gehauene Gesicht eines Titanen. Es mochte zwar eisig sein, doch dieses riesenhafte, grimmige Antlitz verströmte eine noch weit größere Kälte.
Es musste sich um einen Tempel handeln. Oder ein Kloster? Eine gewaltige, aus dem gewachsenen Fels gehauene Treppe führte zum Eingang hinauf – in den weit aufgerissenen Mund des Riesengesichtes. Die sieben erklommen die Stufen bis zu einem hochgezogenen Fallgitter. Der Schlund stellte den Durchgang ins Kloster dar.
Was nun folgte ...
... war der reinste Albtraum!
Denn kaum waren die sieben im Innern verschwunden ... wurde das Antlitz lebendig! Die gewaltigen Kiefer klappten zu, und die Augen öffneten sich und enthüllten einen blutroten, brennenden Blick. Auf dem ehemals steinernen Gesicht erschien ein dämonisches Grinsen!
Harry wollte seinen Augen nicht trauen. Er blinzelte ...
... und blickte in einen blauen Himmel empor, an dem Wolkenstreifen an der hell scheinenden Sonne vorüberzogen. Er war hintenübergefallen. Mit offenem Mund lag er auf dem Rücken am Flussufer. Verwirrt blinzelte er noch einmal ... duckte sich und biss prompt die Zähne zusammen, weil er erneut mit einer plötzlichen Vision rechnete. Doch nein, es war endgültig vorbei, und allmählich dämmerte dies auch dem Necroscope.
Sich mühsam wieder aufrichtend, stammelte er: »Ma, hast du das auch ...?«
Natürlich habe ich es gesehen, schnitt sie ihm das Wort ab. Immerhin stehen wir miteinander in Verbindung; ich sah, was du sahst. Aber was hat das zu bedeuten, Harry? Was war das?
Harry erhob sich und klopfte sich geistesabwesend mit zittrigen Händen den Staub von den Kleidern. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Was es auch gewesen sein mag, es war mit Sicherheit kein Delirium tremens.«
Aber es hängt alles irgendwie miteinander zusammen, oder? Es hat miteinander zu tun! Harry, steckst du wieder in irgendeiner ... Sache drin? Ihre »Stimme« war voller Besorgnis.
»In einer Sache?« Harrys Mund war trocken. Er war noch immer nicht ganz davon überzeugt, dass es wirklich vorüber war.
Du weißt, was ich meine. Steckst du wieder in Schwierigkeiten, Junge?
Zum ersten Mal fragte sich der Necroscope, ob dies vielleicht tatsächlich der Fall sei.
Laut jedoch sagte er, eigentlich ohne nachzudenken: »Ma, soweit ich weiß, bin ich nicht in ernsthaften Schwierigkeiten – glaube ich wenigstens. Und das ist auch ganz gut so, weil ich ohnehin schon Probleme genug habe. Also mal den Teufel nicht an die Wand, okay?«
Abermals hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen, denn im Grunde meinte er es gar nicht so, wie er es
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