Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
Nervenzusammenbruchs. Solange er keine Ruhe gab, würden sie keinen Frieden finden. Bei dem Lärm, den er veranstaltete, konnten sie untereinander weder Gedanken austauschen noch sich selbst denken hören. Von allen Seiten redeten sie behutsam auf ihn ein, die etwas Abgebrühteren versuchten es mit Drohungen, doch nichts, was sie anstellten, vermochte ihn zu beruhigen, denn er wollte sich einfach nicht trösten lassen. Auf jeden Außenstehenden, jemanden aus der Welt der Lebenden, hätte der Friedhof von Muswell Hill ruhig und friedvoll gewirkt. Doch diejenigen, die hier begraben lagen, wurden fast wahnsinnig.
Nun, dachte Harry, immerhin hat Sir Keenan versucht, mich zu warnen. Als er sich auf einer nahe gelegenen Grabplatte niederließ, ebbte der Aufruhr ein bisschen ab, und als die zahllosen Toten seine Gegenwart spürten, zogen sie sich zurück, um ihm den Weg zu ebnen. Das körperlose Geplapper wurde allmählich leiser, bis es nur noch ein zischendes Flüstern war, das schließlich ganz verstummte. Sie warteten ab.
Auf dem Friedhof herrschte Schweigen. Zumindest beinahe, denn tief in der Erde erscholl ein Schluchzen, das außer den Toten und dem Necroscopen Harry Keogh niemand zu hören vermochte. Ein gebrochenes Herz, das noch nicht in Verwesung übergegangen war, lag dort unten, eine Seele, die weder ein noch aus wusste, jemand, der vor lauter Kummer um seinen viel zu frühen Tod den Verstand verloren hatte und nun, nicht mehr Herr seiner Sinne, am Rande des Wahnsinns dahintaumelte.
In der Erinnerung des Necroscopen blitzte flüchtig ein Bild auf, eine Illustration, die er einmal in einem uralten Buch gesehen hatte: ein Mann, der wie ein Fötus zusammengekrümmt auf einem schmutzigen, von Ungeziefer wimmelnden Lager aus Stroh lag, das über nackte, zerbrochene Steinfliesen geschüttet war, umringt von ausgemergelten, sabbernden, hohläugigen Gestalten, die ziellos hin und her schlurften. Nahm Harry zu dieser Szene all das Flehen, Protestieren und gar Drohen der Großen Mehrheit hinzu, fragte er sich, ob es so wohl für Derek Stevens sein musste.
Da Harry seine Gedanken nicht abschirmte, bekamen die zahllosen Toten sie klar und deutlich mit.
Jaaa! , schluchzte Stevens und klammerte sich an Harrys Geist, drängte sich an ihn, um die Wärme des Lebenden zu spüren.
Jeder andere wäre auf der Stelle zurückgewichen. Die Vorstellung, von einem Leichnam umarmt zu werden, und sei es auch nur im Geist, ist nicht unbedingt erstrebenswert. Doch Harry war der Necroscope und die Toten seine Freunde. Der Besuch bei Stevens war für ihn auch nicht wesentlich anders, als würde er einen Freund im Krankenhaus aufsuchen. Darum umgab er den Toten instinktiv mit seiner Wärme und ließ ihn für eine Weile daran teilhaben ... allerdings nur kurz, denn eine innere Stimme warnte ihn davor, der durch nichts zu lindernden Kälte seines Gegenübers zu erliegen.
Doch als er Anstalten machte, sich zurückzuziehen:
Nein! Geh nicht! Wer bist du? Was bist du? Ein Krankenpfleger? Ein Arzt? Du bist am Leben, das weiß ich, weil du so warm bist. Ich kann deine Wärme spüren! Alle anderen hier an diesem ... an diesem Ort, sie sind alle so kalt! Also sag’ mir, sag’ mir, sag’ mir ... du musst mir sagen, dass sie lügen! Ich muss es wissen. Ich muss wissen, dass ... dass ich ... am Leben biiiiin! Stevens’ Gejammer endete in einem langgezogenen Klagelaut, einem schluchzenden Aufschrei, der mit einem Mal abebbte, als wolle die Erde ihn wieder verschlucken.
» Ich bin am Leben, ganz recht«, sagte Harry leise. Es fiel ihm leichter, wenn er es aussprach, und für die Große Mehrheit machte es keinen Unterschied. »Aber dies hier ist ... keine Klinik, Derek. Ich bin Harry Keogh, man nennt mich den Necroscopen, und manchmal wünschte ich mir, ich wäre es nicht. Jetzt zum Beispiel!« Wie sollte er es ihm sonst sagen? Es gab keine andere Möglichkeit. Seine Worte sprachen Bände und vermittelten weit mehr, als es den Anschein hatte, doch selbst in seinen Ohren klangen sie hohl.
Neeiiin!, heulte der Tote. Meine Eltern, meine Frau, meine Familie und Freunde! Alles, was ich hatte ... verloren? Diesmal geriet das letzte Wort zu einem Flüstern.
»Nein, sie sind nicht verloren!« Harry liefen die Tränen übers Gesicht und in seiner Stimme schwang seine Seelenqual mit. »Sie sind immer noch da, Derek, sie alle. Sie haben sich mit dem abgefunden, was du nicht akzeptieren willst. Weil sie dich sahen, berührten und fühlten und ihnen klar
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