Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)

Geisterstimme nur mehr ein fernes Flüstern im metaphysischen Geist des Necroscopen. Besser du als ich, Harry! Besser du als ich ...
    Auf dieser Seite von Muswell Hill fiel einem sofort ins Auge, dass der Stadtteil auf einem Hügel lag. Nach Süden hin erstreckten sich die nächtlichen Straßen Londons wie ein gigantisches glitzerndes Spinnennetz, das sich hinter der Erdkrümmung verlor. Im Augenblick hatte es aufgehört zu regnen, doch in Harry Keoghs lebhafter Fantasie verwandelte sich der kalte Glanz der fernen Straßenlaternen in der feuchtklammen Luft zum Widerschein von Myriaden funkelnder Tautropfen. Wie winzige Spinnen krochen die Autos über den schwarzen Asphalt.
    Doch so verlockend die Aussicht auch sein mochte, sie war nicht der Grund, weshalb der Necroscope diesen Ort aufsuchte.
    Als er über den Friedhof ging, brachte ihn das immer lauter werdende, klagende Stimmengewirr der Toten, das in seinem für das Übersinnliche offenen Geist widerhallte, schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie schienen beunruhigt. Allem Anschein nach machten sie sich Sorgen um Stevens. Keiner von ihnen wandte sich an Harry (noch nicht, denn sie ahnten ja nichts von seiner Gegenwart), sondern sie unterhielten sich miteinander und redeten mit Stevens. Versuchten dies jedenfalls.
    Es fiel nicht schwer, sein Grab ausfindig zu machen. Es lag genau in der Mitte des nach außen hin ach so stillen Friedhofs. Das Geplapper im metaphysischen Äther hingegen schwoll mit jedem Schritt, den Harry zurücklegte, an. Ein brandneuer Grabstein, der frisch aufgeschüttete Kies und frische Blumen bestätigten ihm, dass er hier richtig war. Natürlich auch Stevens’ Name samt Lebensdaten und Nachruf:
    Von uns gegangen in Erfüllung seiner Pflicht
    – ein Mann des Gesetzes
    und Kämpfer bis zuletzt.
    Von allen schmerzlich vermisst.
    In unserer Erinnerung lebst du weiter
    in Ewigkeit.
    Eine traurige Angelegenheit. Doch noch weitaus trauriger war die unentwegt vor sich hin stammelnde Kreatur in ihrem Grab ...
    Es verhielt sich genau so, wie Sir Keenan Gormley vorhergesagt hatte: Die Toten vermochten ihm keinen Trost zu spenden. Derek Stevens konnte sich mit seinem Ableben nicht abfinden und gab einfach keine Ruhe. Obwohl er im tiefsten Innern wusste, dass er tot war, kämpfte er dagegen an und schrie sein Entsetzen hinaus, bis seine Grabstelle und der ganze Friedhof von seinen lautlosen Schreien hallte. Sein Sarg war nicht länger nur eine hölzerne Kiste, sondern eine Zelle in einem unterirdischen Irrenhaus.
    Was ist mit ihm? Dreht er durch? , fragte Harry die in ihren Gräbern stöhnenden Toten.
    Er ist vor lauter Kummer, Enttäuschung und Grauen wahnsinnig geworden, Necroscope! , erwiderte eine bebende Stimme. Die Lebenden sind nämlich nicht die Einzigen, die Kummer empfinden können. Auch wir trauern – um die geliebten Menschen, die wir zurücklassen mussten und die keine Ahnung davon haben, dass wir hier unten weiterexistieren ... und dies auch niemals erfahren dürfen! Sonst würden sie den ganzen Tag nur an unseren Gräbern sitzen und die kurze Zeit, die sie auf Erden weilen, sinnlos vergeuden ...
    Dies wurde so gefühlvoll und schicksalsergeben vorgetragen, dass der Necroscope eine Zeit lang überrascht schwieg.
    Entschuldigen Sie, Sir, entgegnete er schließlich und schirmte respektvoll seine Gedanken vor den übrigen Bewohnern des Gottesackers ab, um mit seinem Gesprächspartner ungestört zu sein. Wir kennen uns nicht, aber eines weiß ich mit Sicherheit: Sie mögen zwar zur Großen Mehrheit gehören, aber als einziger Schwarzseher unter lauter Optimisten stehen Sie doch ziemlich allein da! Ich habe schon mit einer ganzen Reihe von Verblichenen gesprochen, aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, hörte ich noch nie jemanden, der den Zustand respektive das Schicksal der zahllosen Toten so trübsinnig und hoffnungslos umschrieben hätte wie Sie. Selbst ein Vampir, der nicht nur das Leben, sondern noch dazu den Untod und die Unsterblichkeit einbüßt, scheint sich eher in seine Lage zu ergeben als Sie! Das ist keineswegs abwertend gemeint, mich interessiert vielmehr die Frage, was ... na ja, was Sie so weit gebracht hat?
    Im ersten Augenblick verschlug es dem anderen die Sprache. Sollte dies wirklich der Necroscope sein, dessen Mitgefühl allenthalben gerühmt wurde? Harry spürte einen kalten Hauch in der unruhigen Nacht, der zu seiner Erleichterung allerdings allmählich wieder verschwand. Ja, du hast recht, erscholl