Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
ein Mädchen – oder vielmehr Frau – war diese Bonnie Jean überhaupt, dass sie mit einer Armbrust herumlief und wahllos Männer erschoss? Diese Frage hatte Harry sich schon unzählige Male gestellt. Das war mit ein Grund, aus dem er hier war – um herauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen B. J. und Brendas Verschwinden gab.
Während er nachdenklich durch den Regen zurück zum B. J.’s spazierte, grübelte er über das Gesicht nach, das er gesehen hatte, ehe dieser – was, Beobachter? – sich von ihm losriss. Das überraschte Antlitz des kleinen Mannes, das Harry dazu veranlasst hatte, ihn vorerst laufen zu lassen. Nicht dass er irgendwie Angst vor ihm gehabt hätte, er war einfach nur ... überrascht gewesen. Erschrocken? Womöglich genauso erschreckt wie der kleine Mann selbst. Doch worüber?
Auf Äußerlichkeiten durfte man nichts geben, gewiss, doch der Kleine hatte ausgesehen wie eine in die Enge getriebene Ratte. Und jeder weiß, dass man eine Ratte besser nicht in die Enge treibt! Allein dieser Gesichtsausdruck hatte genügt, dass Harry die Finger von ihm ließ – für dieses Mal jedenfalls. Doch sollte es ein nächstes Mal geben, würde er ihn nicht so einfach davonkommen lassen.
Während er weiter auf das B. J.’s zuschritt, grübelte er über dieses faltige, alte Gesicht mit den wässrigen Triefaugen nach. Aus der Ferne hatte er sie für glänzend schwarz gehalten, aber in der Nähe schwand dieser Eindruck. Diese dreieckigen Augen, seltsam! In der einen Sekunde wirkten sie grau und in der nächsten wie stumpfes Silber, als blicke man bei Nacht in die Augen eines Tieres ... und dann wieder nur grau; vielleicht spielte ihm aber auch bloß die Straßenbeleuchtung einen Streich. Und diese lange, von Adern gezeichnete Nase mit den großen Löchern, der viel zu breite Mund mit den hängenden Lippen! Und wie aggressiv er den Kiefer vorgeschoben hatte! Vor allem aber hatte das Gesicht insgesamt so furchtbar grau und alt ausgesehen.
Harry hatte nur einen flüchtigen Blick erhascht und bei Weitem nicht jede Einzelheit wahrgenommen. Aber genug, um ihn nachdenklich zu stimmen ...
Während das Bild vor seinem geistigen Auge allmählich verblasste, gab der Necroscope sich damit zufrieden, dass er dieses Gesicht nicht mehr so leicht vergessen würde. Vielleicht sollte er B. J. darauf ansprechen und sie fragen, ob sie den kleinen Mann kannte. Denn wenn sie ihn je gesehen hatte, müsste sie eigentlich sofort wissen, von wem Harry sprach.
Dies war nur eine der Antworten, die er von ihr haben wollte. Und sollte sie ihrerseits Fragen an ihn haben ... nun, dann würde er eben sein Bestes tun, ihr auszuweichen.
Das jedenfalls sagte er sich ...
Es war eine schwere, metallbeschlagene Tür mit Guckloch und Sprechgitter. Als Harry den Summer betätigte, nahm er im Innern eine verstohlene Bewegung wahr, gleich darauf fühlte er sich beobachtet.
»Sind Sie Mitglied, Sir?«, fragte schließlich eine weibliche Stimme. »Falls ja, halten Sie bitte Ihre Karte hoch. Wenn nicht, sagen Sie, was Sie wünschen!« Offensichtlich eins von den »jungen Dingern«, dachte Harry.
»Nein, kein Mitglied«, erwiderte er. »Ich wurde eingeladen – von Bonnie Jean.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sagte sie: »Warten Sie bitte!«
Das Warten dauerte ewig, so wenigstens schien es Harry, doch als man ihm endlich öffnete, war es Bonnie Jean persönlich, die ihm die Tür aufhielt. Und abermals wusste Harry nicht zu sagen, was er eigentlich erwartet hatte. Er begegnete ihr zwar nicht zum ersten Mal, aber damals war alles drunter und drüber gegangen. Komisch, aber er hatte die ganze Zeit über das Bild vor Augen gehabt, das George Jakes ihm gezeigt hatte:
Verdammt gut aussehend ... Groß, schlank, verführerisch, und nichts davon aufgesetzt! (In Jakes’ Geist hatte sie dieselbe Figur gehabt wie Lauren Bacall in dem alten Humphrey-Bogart-Streifen, in dem sie sagt: »Du kannst doch pfeifen, oder?«) Möglicherweise Eurasierin, ihren mandelförmigen, leicht schräg stehenden Augen nach zu urteilen. Das Haar fiel ihr in Wellen auf die Schultern; es wirkte pechschwarz, aber wenn sich das Licht darin brach, schimmerte es grau. Sie war dieser alterslose Typ ... Sie konnte alles zwischen neunzehn und fünfunddreißig sein. Aber hübsch, oh ja!
Und nun stand sie leibhaftig vor ihm. Doch noch immer konnte der Necroscope sie nicht deutlich sehen, nicht in dem Zwielicht, das in dem Flur hinter der Tür herrschte. Sie hingegen
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