Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
erkannte ihn ohne Schwierigkeiten.
»Aah, mein tapferer Retter!«, hauchte sie, während sie ihn, den Kopf verwundert zur Seite geneigt, anlächelte. »Der Mann ohne Namen, der mir zu Hilfe eilte!« Damit richtete sie sich zu voller Größe auf, war aber immer noch fünf Zentimeter kleiner als Harry. »Der große Unbekannte! So langsam habe ich schon Angst bekommen, ich würde dich nie wiedersehen! Komm’ doch rein!«
Der Flur oder vielmehr Gang war recht breit. Er hatte eine hohe Decke und war mit Teppichen ausgelegt. Von irgendwo über ihnen kam leise Musik; späte Fünfziger- oder frühe Sechzigerjahre, dachte Harry. Genau das Zeug, das er mochte. Der Gang kam ihm endlos vor. An den Wänden hingen Bilder, riesige Gobelins in vergoldeten Rahmen; aber nicht eine einzige Tür zweigte links oder rechts ab. Äußerst merkwürdig!
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte B. J., während sie voranging. »Die reinste Mausefalle! Wenn es mal brennt, kommt hier keiner mehr raus – stimmt’s? Das war auch mein erster Eindruck. Und die Behörden haben das ebenfalls gesagt. Aber falls es wirklich mal brennen sollte – Gott behüte –, gibt es nach hinten und zum Garten hin genügend Notausgänge. Das ist immerhin noch das Erdgeschoss!«
»An ein Feuer habe ich eben nicht gedacht«, erwiderte Harry, ohne aufzupassen, wohin er seine Füße setzte, und stieß prompt gegen sie, als sie vor einer Brandschutztür stehen blieb. »Entschuldigung«, meinte er und hob fragend, vielleicht auch amüsiert, eine Augenbraue. »Wie tölpelhaft von mir ...«
»Als wir uns das letzte Mal begegnet sind, hast du dich nicht so ungeschickt bewegt«, entgegnete sie. In ihrer Stimme schwang so etwas wie Missbilligung mit. »Eigentlich eher wie ein geölter Blitz!« Falls sie irgendeine Reaktion erwartete, wurde sie enttäuscht. Harry zuckte lediglich die Achseln und fuhr fort:
»Nein, nicht an die Brandgefahr. Ich habe mich bloß gefragt, weshalb dieser Korridor so lang ist?«
Sie standen ziemlich nah beisammen. Er konnte ihren duftenden Atem riechen, als sie antwortete:
»Ursprünglich war es ein Durchgang zwischen den beiden Gebäuden zur Linken und Rechten. Als die Ladenfronten errichtet wurden, haben sie auch die Gasse überdacht, damit der Zugang zu dem Haus dahinter geschützt ist – das jetzt mir gehört.« Bisher hatte sie, wie in Edinburgh üblich, mit einem rollenden R gesprochen, doch nun war ihr Dialekt einem Akzent gewichen, den Harry nicht ganz einordnen konnte. »Unten ist das B. J.’s«, fuhr sie fort, indem sie sich von ihm abwandte und sich durch die Tür zwängte. »Und oben wohne ich. Und in der Dachkammer, da ist ... mein Schlafzimmer.«
»Wenn du schon eine Antwort gibst, dann aber richtig«, meinte Harry, indem er ihr folgte.
Erneut bedachte sie ihn mit ihrem Blick. »Na ja, dann tut das wenigstens einer von uns!«, erwiderte sie, während ihr Dialekt wieder durchkam. Und mit einer weit ausholenden Handbewegung verkündete sie: »Das B. J.’s!«
Von innen sah der Laden eindeutig besser aus als von außen. Harry sah sich um, indem er aus seinem Mantel schlüpfte, den ihm ein hübsches Mädchen im Playboy-Kostüm abnahm und zur Garderobe brachte. Hinter einem ziemlich langen Mahagoni-Tresen mit Durchreichen an beiden Enden schenkten zwei weitere Mädchen Getränke aus – das heißt, Harry nahm an, dass dies ihre Aufgabe war, denn im Augenblick waren nur ein, zwei Gäste da. Und an der gegenüberliegenden Wand des Saales saß noch ein Mädchen neben der Jukebox, einer Original Wurlitzer, wie es aussah, und blätterte in einer Zeitschrift.
»Ein ›ruhiger‹ Abend«, bemerkte Bonnie Jean trocken, während Harry sich linkisch auf einem der viel zu vielen freien Barhocker niederließ. Damit verschwand sie hinter dem Tresen, um ihm etwas einzuschenken. »Das ist immer so, wenn es regnet.« Außer Harry thronten noch zwei weitere Gäste (»Clubmitglieder«, korrigierte er sich) vor ihren Gläsern an der Bar, jeder an einem anderen Ende, und quatschten mit den Mädchen, und in einer Nische neben der Dartscheibe saßen drei Männer an einem Tisch. B. J.s Kunden waren allesamt über vierzig, gut situiert, wahrscheinlich Geschäftsleute. Jedenfalls hatten sie Geld. Anscheinend hatte der Taxifahrer recht: Billig war es hier wohl nicht!
Harry ließ seinen Blick weiter schweifen und kam zu dem Schluss: Der Laden ist eine umgebaute Kneipe! Damit lag er richtig. Ursprünglich war das »B. J.’s« einmal ein ganz
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