Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
Verstummen.
»Das ist sehr tapfer von dir, Emily«, sagte Mrs. Elcott in die Stille. »Ich bin sicher, dass du deinem Vater eine große Stütze bist.«
»Wir haben all die Zeit versucht, dich zu besuchen, aber du hast uns nie empfangen, nicht einmal an den Feiertagen. Als wärest du verschwunden!«, brach es aus Camille hervor, während ich ihr Tee einschenkte. »Ich dachte schon, du wärst auch gestorben.«
Ihre Worte weckten Reue in mir. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
»Das hast du auch nicht.« Mrs. Elcott sah ihre Tochter finster an. »Camille, Emily war nicht verschwunden. Sie war in Trauer.«
»Das bin ich noch immer«, sagte ich leise. Camille nickte und wischte sich die Augen, aber ihre Mutter war zu sehr damit beschäftigt, sich einen der Teekuchen mit Zuckerguss zu nehmen, um uns Aufmerksamkeit zu schenken.
Das Schweigen schien sich zu dehnen, während wir an unserem Tee nippten und ich den kleinen weißen Kuchen auf meinem Teller hin und her schob. Da fragte Mrs. Elcott plötzlich in höchster Erregung: »Warst du wirklich dort, Emily? Im Zimmer, als Alice starb?«
Ich sah zu Camille, wünschte mir einen Augenblick lang, sie könnte ihre Mutter zum Schweigen bringen, aber das war natürlich ein dummer, vergeblicher Wunsch. Auf dem Gesicht meiner Freundin spiegelte sich mein eigenes Unbehagen, aber sie wirkte nicht schockiert darüber, wie wenig sich ihre Mutter um Anstand und Privatsphäre kümmerte. Da wurde mir klar, dass Camille gewusst hatte, dass ihre Mutter mich derart ausfragen wollte. Ich holte tief Luft und antwortete zögernd, aber wahrheitsgemäß: »Ja. Ich war dort.«
»Das muss grauenhaft gewesen sein«, sagte Camille schnell.
»Ja«, sagte ich und stellte meine Teetasse mit Bedacht auf die Untertasse, ehe eine von ihnen sehen konnte, wie meine Hand zitterte.
»Ich nehme an, alles war voller Blut«, sagte Mrs. Elcott und nickte langsam, als stimme sie schon jetzt meiner Antwort zu.
Ich faltete die Hände fest in meinem Schoß. »Ja.«
»Wir alle hatten solches Mitgefühl mit dir, als wir hörten, dass du mitansehen musstest, wie sie starb«, sagte Camille leise und unsicher.
Ich war so entsetzt, dass ich kein Wort herausbekam, und glaubte fast, meine Mutter schimpfen zu hören: Bedienstete! Über alles müssen sie sich den Mund zerreißen! Es traf mich tief, dass über Mutters Tod geklatscht worden war, aber zugleich wollte ich liebend gern mit Camille reden, ihr erzählen, welche Angst ich gehabt hatte. Doch ehe ich mich wieder so weit in der Gewalt hatte, um etwas zu sagen, kam mir Mrs. Elcotts scharfe Stimme zuvor. »In der Tat, man sprach wochenlang über nichts anderes. Deine arme Mutter wäre empört gewesen. Es ist jammerschade, dass du den Weihnachtsball verpasst hast, aber angesichts dessen, dass deine Anwesenheit bei ihrem grausigen Tod das Thema des Abends war …« Sie schüttelte sich. »Alice hätte es mit Recht entsetzlich gefunden.«
Meine Wangen brannten. Den Weihnachtsball hatte ich völlig vergessen – genau wie meinen sechzehnten Geburtstag. Beides hatte im Dezember stattgefunden, als der Schlaf mich dem Leben entzogen hatte. »Auf dem Ball wurde nur über mich geredet?« Ich wäre am liebsten in mein Zimmer geflohen und hätte es nie wieder verlassen.
Hastig erwiderte Camille, wobei sie eine unbestimmte Geste machte, als verstünde sie, wie peinigend das Gespräch für mich geworden war, und wollte das Thema gern wegwischen: »Nancy, Elizabeth und Evelyn haben sich große Sorgen um dich gemacht. Ach, wir alle haben uns Sorgen gemacht – und tun es noch immer.«
»Du hast eine Person vergessen, die ganz besonders besorgt war: Arthur Simpton. Weißt du nicht mehr, wie du erzähltest, dass er während des Walzers mit dir über nichts anderes sprechen konnte als darüber, wie schrecklich all das für Emily sein musste?«, sagte Mrs. Elcott alles andere als besorgt. Eher verärgert.
Ich blinzelte und fühlte mich, als schwömme ich durch tiefes, trübes Wasser. »Arthur Simpton? Er hat von mir gesprochen?«
»Ja, während er mit Camille tanzte.« Mrs. Elcott klang erbittert, und da begriff ich, warum. Arthur Simpton war der älteste Sohn eines wohlhabenden Eisenbahnunternehmers, dessen Familie wegen enger geschäftlicher Beziehungen zu Mr. Pullman kürzlich von New York hierher gezogen war. Abgesehen davon, dass er aus hochgeachteter und wohlhabender Familie stammte und im heiratsfähigen Alter war, sah er auch noch extrem
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