Neferets Fluch ( House of Night Novelle )
ganz als Dame, als er mir über unseren vereinten Händen in die Augen sah.
Da bemerkte ich es zum ersten Mal – das, was ich inzwischen bei mir den brennenden Blick nenne. Sein Blick bohrte sich so intensiv in meinen, dass ich fast glaubte, ich müsse gleich zerspringen. »Du hast ihre Augen«, sagte er verwaschen, und ich konnte seinen stechenden, vom Wein geschwängerten Atem riechen. Ich stellte fest, dass ich kein Wort herausbekam. Zitternd nickte ich. Da ließ Vater meine Hand fallen und verließ mit unstetem Schritt das Zimmer. Ehe George kam, um den Tisch abzuräumen, nahm ich meine Leinenserviette, rieb damit die Nässe von meinem Handrücken und fragte mich, warum mir tief drinnen so unbehaglich zumute war.
Zwei Tage später empfing ich zum ersten Mal zwei Besucherinnen, Madeleine Elcott und ihre Tochter Camille. Mr. Elcott war im Vorstand von Vaters Bank, und Mrs. Elcott war eine gute Freundin von Mutter gewesen, obgleich mir nie ganz klar gewesen war, weshalb. Mutter war wunderschön, charmant und für ihre Gastfreundlichkeit weithin bekannt gewesen. Mrs. Elcott hingegen kam mir scharfzüngig, klatschsüchtig und knauserig vor. Wenn sie und Mutter bei einer Abendgesellschaft nebeneinander saßen, fand ich immer, dass Mrs. Elcott aussah wie ein zerrupftes Huhn neben einer Taube, aber sie besaß die Gabe, Mutter zum Lachen zu bringen, und Mutter hatte ein so zauberhaftes Lachen, dass der Grund dafür völlig unwichtig schien. Einmal hatte ich gehört, wie Vater zu Mutter sagte, sie solle nur so oft wie möglich Gesellschaften bei uns geben, da es auf den Dinnerpartys im Hause Elcott zwar nicht an Klatsch und Tratsch, wohl aber am einen oder anderen Gang des Menüs und an ausreichend geistigen Getränken mangele. Hätte mich jemals jemand nach meiner Meinung gefragt, was natürlich nie geschah, ich hätte Vater aus ganzem Herzen zugestimmt. Das Haus der Elcotts, das keine Meile von unserem entfernt lag, sah von außen durchaus stattlich und schicklich aus, das Innere jedoch war spartanisch und, um ehrlich zu sein, recht trist eingerichtet. Kein Wunder, dass Camille mich so gern besuchte! Camille war meine beste Freundin. Wir waren etwa im gleichen Alter, sie nur sechs Monate jünger. Camille redete viel, doch ohne die boshafte, verleumderische Zunge ihrer Mutter. Dank der engen Freundschaft unserer Eltern waren sie und ich zusammen aufgewachsen und betrachteten uns mehr als Schwestern denn als Freundinnen.
»Oh, meine arme traurige Emily! Wie dünn und schwach du aussiehst«, rief Camille, durcheilte den Salon meiner Mutter und umarmte mich.
»Nun, selbstverständlich sieht sie dünn und schwach aus!« Mrs. Elcott schob ihre Tochter beiseite und nahm steif meine Hände in ihre, ohne auch nur ihre weißen Lederhandschuhe abzunehmen. Wenn ich an ihre Berührung zurückdenke, finde ich sie kalt und gewissermaßen reptilienhaft. »Emily hat ihre Mutter verloren, Camille. Denk nur daran, wie elend dein Leben wäre, wenn ich von dir ginge. Ich behaupte, du sähest nicht besser aus als die arme Emily. Ich bin sicher, die liebe Alice blickt voller Verständnis und Wohlwollen auf ihre Tochter herab.«
Mich schockierte ein wenig, wie freimütig sie von Mutters Tod sprach. Während wir uns voneinander trennten, um uns in der Raumecke auf dem Diwan und den beiden dazu passenden Sesseln niederzulassen, versuchte ich, Camilles Augen zu begegnen, um mit ihr unseren alten Blick zu tauschen, der unsere völlige Einigkeit darüber zum Ausdruck brachte, welch schrecklich peinliche Dinge unsere Mütter manchmal sagten. Doch Camille schien überall hinzusehen, nur nicht in meine Augen. »Ja, Mutter, natürlich. Entschuldigung«, war alles, was sie zerknirscht murmelte.
Unsicher versuchte ich, mich in dieser neuen Welt der Gesellschaft zurechtzufinden, die mir plötzlich sehr fremd vorkam. Es erleichterte mich sehr, als das Hausmädchen mit Tee und Kuchen hereinkam. Ich goss den Tee ein. Mrs. Elcott und Camille musterten mich dabei genau.
»Du bist wirklich sehr dünn«, sagte Camille schließlich.
»Das wird sich schon wieder geben«, sagte ich und lächelte ihr aufmunternd zu. »Zuerst fiel es mir schwer, etwas anderes zu tun, als zu schlafen, aber Vater bestand darauf, dass ich gesund werde. Er erinnerte mich daran, dass ich ja nun die Dame des Hauses bin.«
Camille warf einen flüchtigen Blick auf ihre Mutter. Ich konnte den harten Ausdruck in Mrs. Elcotts Augen nicht lesen, doch er brachte ihre Tochter zum
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