Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
die Zuhörerschaft, ein Raunen folgte, aber von seinem Beobachtungsposten neben der Bühne aus, mit Blick über das gesamte Auditorium, meinte Navarro, eine Anomalie wahrgenommen zu haben. Eine Abweichung. Irgendwo hatte jemand anders als die Menge reagiert. Nachdem durch Hjelms und Barrières umsichtiges Handeln wieder Ruhe eingekehrt war, wusste Navarro noch immer nicht, was genau er gesehen hatte. Aber er ahnte etwas. Als ihn jedoch Hjelms Appell zu erhöhter Alarmbereitschaft erreichte, lief Felipe Navarro bereits den Gang hoch.
Seit der Neoliberalismus auf breiter Front Anklang findet, wurde die Vorstellung von einer Gemeinschaft sukzessive ausgehebelt. Durch die Ego-Gesellschaft wurde die Ausgrenzung ein wesentlicher, ja aktiver Teil gesellschaftlicher Mechanismen. Die Welt und das Überleben in ihr wandelte sich zu einem fortwährenden Wettkampf mit extrem eng gefassten Spielregeln, in dem die einzige wertvolle Kompetenz wirtschaftliches Geschick ist. Sehr viele Menschen wurden an den Rand gedrängt. Arbeitslosigkeit und Außenseiterdasein erzeugen jedoch eine enorme Frustration. Neue Gemeinschaften, die überhaupt nicht neu, sondern im Gegenteil uralt waren, lebten wieder auf, Gemeinschaften, die sich darauf gründeten, Sündenböcke zu benennen. Ich möchte sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Welle von Rechtsextremismus, die zu unserem Entsetzen in ganz Europa immer höher schwappt, eine Folge des Neoliberalismus ist, des Kapitalismus, der zur Ideologie wurde. Ein paar Mitspieler haben sehr viel gewonnen, die allermeisten aber haben umso mehr verloren. Was wir nun zu spüren bekommen, ist die rachsüchtige Revanche der Verlierer. Verlierer, die überhaupt keine Verlierer hätten sein müssen.
Navarro versuchte sich zu erinnern, was genau er wahrgenommen hatte. Jemand, der anders als die anderen reagiert hatte? Nicht mit Entsetzen und Erstaunen, sondern mit Enttäuschung. Es war keine große Bewegung gewesen, nur ein Gesichtsausdruck. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er sah klarer als mit den eigenen Augen.
Inzwischen hatte er schon fast die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er plötzlich ganz deutlich den Gesichtsausdruck des Tontechnikers vor seinem inneren Auge sah. Er hatte enttäuscht ausgesehen. Und mit einem Mal war alles sonnenklar. Phase eins war gescheitert, jetzt ging er zu Phase zwei über. Der Tontechniker holte etwas aus einer kleinen Tasche. Es war eine Ampulle, eine gläserne Ampulle in Form einer Kugel, gefüllt mit einer farblosen Flüssigkeit. Der Tontechniker stand auf und hob den Arm wie zum Wurf. Da fiel sein Blick auf Navarro, der mit gezogener Dienstwaffe auf ihn zustürmte. Der Techniker wollte in die Tasche auf dem Mischpult greifen, hielt aber in der Hand bereits die fragile Glaskugel. Er musste die Kugel also erst in die andere Hand nehmen. Aber da hatte Felipe Navarro ihn schon mit seiner Waffe niedergestreckt, indem er sie mit einer Kraft gegen dessen Schläfe geschlagen hatte, die ihn selbst überraschte. Der Tontechniker fiel rückwärts auf die leeren Sitzplätze innerhalb der Absperrung, während die Glaskugel in hohem Bogen in den Seitengang flog. Als sie sich auf dem Scheitelpunkt ihrer Flugkurve befand, fiel das Licht von einem der großen Kristallkronleuchter des Konzerthauses auf sie. Da leuchtete die kleine Glaskugel wie ein Feuerball.
Navarro ließ die Waffe fallen und hechtete wie ein Fußballtorwart hinter ihr her. Er fing sie weich auf, knallte aber umso härter auf den Boden. Mit den Rippen prallte er gegen einen Stuhlrücken, und ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn. Trotzdem stand er schon wieder auf den Beinen, als Sifakis angelaufen kam, und gemeinsam zogen sie den Tontechniker aus dem Zuschauerraum.
Einige verblüffte Aufschreie waren aus dem Publikum zu hören. Marianne Barrière schien zu ahnen, was vor sich ging, fuhr aber trotzdem emphatisch fort:
Einige Dinge sind so leicht zu zerstören und so schwer wieder aufzubauen. Dabei geht es doch vor allem um Gemeinschaft, um das Gefühl, gemeinsam an einem Ziel zu arbeiten. Das Gefühl zu haben, dass man Teil eines sinnvollen großen Ganzen ist. Die letzten Jahrzehnte waren von unendlicher Innovationskraft geprägt, vor allem auf dem Gebiet der Informationstechnologien, und der Großteil davon ist von privatwirtschaftlichen Unternehmen entwickelt worden, in Forschungseinrichtungen, von denen die staatlich finanzierte Forschungswelt nur träumen kann. Das ist auch gut so. Aber
Weitere Kostenlose Bücher