Neid: Thriller (Opcop-Gruppe) (German Edition)
durch den Raum der acht »Gäste« schreiten. Wenn er ehrlich ist, weiß er nicht, ob auch alle acht anwesend sind. Seine Wachsamkeit ist schon so lange erloschen.
Er hört, wie der Heimleiter sich räuspert und sagt: »Dafür haben wir uns das Beste bis zum Schluss aufgehoben.«
Mander bewegt sich keinen Millimeter. Er hat seine alte Wachsamkeit doch nicht verloren, sie hat nur brachgelegen, seit sie ihm auf seinen langen Wanderungen immer wieder das Leben gerettet hat. Sie und der Gesang. Und die Gitarre.
Nach langer Zeit hat er zum ersten Mal wieder das Bedürfnis, die Saiten seiner Gitarre anzuschlagen.
Erneutes Kratzen der Bleistiftspitze, dann nähern sich die Schritte. Sie kommen direkt auf Mander zu. Und plötzlich fallen alle Puzzlestücke an ihren Platz. Und ein Gesamtbild erscheint. Ein Bild, das niemand außer ihm sehen kann.
Er sieht es auf seine Weise.
»Der da?«, fragt die Bassstimme skeptisch.
»Blind geboren«, sagt der Heimleiter eifrig. »Sehen Sie sich diese Augen an. Wer kann vollkommen weißen Augen widerstehen?«
»Aber er hat eine schwierige Geschichte, richtig?«
»Er hat sich zurückgezogen«, sagt der Heimleiter. »Er hat die ethnischen Säuberungsaktionen in Harghita im August 1992 überlebt, ist nach Süden geflohen und war fünfzehn Jahre untergetaucht.«
»Ich habe Sie nicht um seinen Lebenslauf gebeten«, sagt die Bassstimme. »Ich will nur wissen, ob er uns Schwierigkeiten machen wird.«
»Er ist die Ruhe selbst«, antwortet der Heimleiter.
Einen Moment lang herrscht Schweigen. Mander Petulengro meint, ein bestätigendes Nicken als leichte Druckveränderung in der dunklen Luft wahrzunehmen.
»Ciprian klärt mit Ihnen die finanziellen Details«, sagt die Bassstimme, und einer der beiden Schwergewichtigen setzt sich in Bewegung. Die mittlerweile wesentlich sichereren Schritte des Heimleiters folgen ihm. Die beiden verlassen den Raum.
Erneutes Kratzen des Bleistiftes auf dem Papier, dann nähern sich andere Schritte. Ein monströs lautes Schnaufen, der Kerl ist vor ihm in die Hocke gegangen, dann sagt er mit verräterischer Milde in der Stimme: »Du wirst uns doch keine Probleme machen, oder?«
»Ich heiße Mander Petulengro«, antwortet Mander.
»Ich will nicht wissen, wie du heißt.«
»Sie haben mich jetzt also gekauft?«
»Das ist die letzte Frage, die du stellst, kapiert? Wir haben einen vielversprechenden Wasserkopf, einen verkrüppelten zappelnden Sechsjährigen und einen richtig hässlichen Zwerg gekauft. Und jetzt noch eine unsichere Karte, eine Blindschleiche mit gruseligen verdrehten Augen. Los, komm.«
Während sich die schweren Schritte des dritten Mannes nähern, begreift Mander, dass sein Leben mitnichten hier in diesem Bett voller Flöhe enden wird. Sondern dass sich jetzt wieder alles ändern wird. Ihm kommt eine Idee, und er streckt seine linke Hand aus. Er spürt die Kurven des Instrumentes und sieht plötzlich Luminitsa aus Sarajevo ganz deutlich vor sich.
Er sieht sie auf seine ihm ganz eigene Weise.
»Ihr bekommt sogar noch einen Bonus dazu«, sagt er, als sich eine schwere Hand auf seine Schulter legt. »Ich bin Musiker.«
Es herrscht einen Augenblick lang Schweigen. Die Hand lässt seine Schulter los.
Schließlich sagt die Bassstimme: »Musiker kriegen wir woandersher.«
»Aber ich bin ein blinder Musiker«, entgegnet Mander und hört, wie laut sein Herz schlägt.
Erneutes Schweigen. Die Sorte von Schweigen, die – so hatte er herausgefunden – bedeutet, dass Blicke gewechselt werden.
»Na gut«, sagt die Bassstimme dann, und ihr Besitzer erhebt sich, sein Schnaufen lässt nach. »Ich gebe dir eine Minute. Zeig uns, was du draufhast!«
Mander Petulengro greift nach seiner Gitarre. Er pustet die Staubschicht weg. Der Gestank nach Schwermetallen sticht ihm in die Nase, während er das Instrument auf sein Knie hebt. Sanft streicht er über die Kurven des Korpus, und dieses Mal verdrängt er das Bild von Luminitsa aus Sarajevo nicht.
Sein ganz eigenes Bild.
Als er den ersten Akkord anschlägt, ist sein eigener Herzschlag ruhig und gleichmäßig. Und es ist so hell wie an einem normalen Nachmittag im Februar.
Die Kontaktaufnahme
Den Haag – Amsterdam, 28. Juni
Das grelle Sonnenlicht, das durch die Fenster des Hauptquartiers der Opcop-Gruppe in Den Haag fiel, schien jedes einzelne Staubkorn in Bewegung zu versetzen. Und verursachte merkwürdig fremde Schatten.
Überhaupt war es ein unerwartet einsames Gefühl, durch die Räume der
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