Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - Ironside, V: Nein! Ich geh nicht zum Seniorentreff! - The Virginia Monologues
viel, viel schlimmer, wenn am Ende doch herauskäme, wie alt ich genau bin? » Wisst ihr, wie alt V irginia ist?«, würden Bekannte und Freunde dann hinter meinem Rücken tuscheln, » Sie ist fünfundsechzig ! Kein W under, dass sie so ein Geheimnis daraus macht!«
Es erstaunt mich immer wieder, wie ungern sich meine Generation eingestehen will, dass sie alt geworden ist. Bonnie Greer hat in einem A rtikel über ihre Generation– die Jahrgänge 1944 bis 1954 – geschrieben: » Wir klammern uns ans Leben, fordern unseren Platz, wollen unseren W illen haben und verschließen unsere A ugen vor der Realität. Unser Motto war eine Zeile aus einem Song von The W ho: » Hope I die before I get old«. A ber wir sind nicht gestorben und weigern uns jetzt, alt zu werden. Und da sind wir nun, gefangen in den glimmenden Überresten einer längst erloschenen Flamme, deren Glühen noch immer alle ausblendet, die nach uns kommen.«
Es scheint, als wäre das A ltwerden eines der letzten Tabus, über das die meisten A lten nicht reden wollen. Immer, wenn ich Dinge sage wie » Ich hab nur noch ein paar Jahre, da kann ich genauso gut…«, schnappen alle entsetzt nach Luft und schreien: » Sag das nicht!«, als würde ich durch die Erwähnung irgendeines, wenn auch noch so unbestimmten Endes meinen Tod heraufbeschwören. Ich selbst bezeichne mich oft als alt und werde dann von meinen A ltersgenossen prompt niedergeschrien. » Du bist nicht alt!«, korrigieren sie mich. W as sie wirklich meinen, ist: » Sag das nicht! Denn wenn du alt bist, sind wir auch alt, und das können wir nicht ertragen! A lso rüttle bitte nicht am Status quo!«
Eine meiner Freundinnen hat einmal gewagt zu sagen, dass sie » alt« sei. Sofort wurde sie von einer anderen Bekannten zurechtgewiesen: » Nimm dieses W ort nicht in den Mund! Du bist nicht alt– du bist… reif !«
» Reif?«, quiekte meine Freundin entsetzt, » reif wofür? Zur Ernte? Das wäre doch wohl ein bisschen zu spät!«
Ich habe mal einen A rtikel für den A merikanischen Seniorenverband, die A ARP oder A merican A ssociation of Retired People geschrieben. Der V erein gibt eine Zeitschrift heraus, die sage und schreibe fünfzig Millionen Leser hat. Ich schrieb also den A rtikel und mailte ihn nach New York. A ls ich dann jedoch die Korrekturfahne zurückbekam, musste ich zu meinem Erstaunen feststellen, dass das W örtchen » alt« überall gestrichen worden war. Ich rief sofort beim A ARP an und fragte nach. » Das Layout ist wunderbar, die Fotos toll, die Illustration prima– aber warum habt ihr das W ort › alt‹ rausgestrichen?«, fragte ich und bat die Cheflektorin um Rückruf.
Ihrem dünnen, zittrigen Stimmchen nach zu schließen, war die Dame schon ziemlich reif. » Hallo, Ginny«, krächzte sie, » sorry, dass ich vergessen habe, dir das vorher zu sagen, aber wir von der A ARP benutzen nie das W ort ›alt‹!«
Wie bitte? Der amerikanische Seniorenverband? W ill nicht das W ort »alt« benutzen? Das ist doch der blanke W ahnsinn. A ls würde ein Friseur versuchen, ohne das W ort »Haare« auszukommen! Oder wenn man über Monty Python zu reden versuchte, ohne das W ort »Papagei« erwähnen zu dürfen. Für mich klingt das so wie eins von diesen verrückten Gesellschaftsspielen, bei denen man eine Minute lang über irgendwas reden muss, ohne Begriffe wie »der/die/das« oder »und« sagen zu dürfen.
Kurz vor meinem sechzigsten Geburtstag hätte ich mich wahrscheinlich auch von einer solchen Sprachpolitik einlullen lassen. A ber als es dann schließlich so weit war, stellte ich fest, dass man A ltwerden weder verleugnen noch verschweigen kann. Und dass man sich auf keinen Fall dafür entschuldigen sollte.
Im Gegenteil.
Alt zu werden ist sogar ein Grund zum Feiern.
Es stimmt– die sechzig sind nicht der »Winteranfang« vom Herbst des Lebens. Im Gegenteil: Sie sind der Frühling des A lters. Eine Dichterin hat es so ausgedrückt: » Das Problem ist, dass das A ltwerden erst dann interessant wird, wenn man bereits alt ist. Es ist ein fremdes Land, mit einer fremden Sprache, die weder die Jugend versteht noch das sogenannte Mittelalter.«
Die Dichterin hat recht. Älter zu werden ist tatsächlich interessant. Und befreiend. Und schön. Und zwar gerade aus den gegenteiligen Gründen, die einem die heutige Gesellschaft weiszumachen versucht.
Bestes Beispiel ist der hirnrissige Satz: » Es ist nie zu spät!«– Genau das glatte Gegenteil ist der Fall, wenn man sechzig
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