Nekropole (German Edition)
zuwerfen.
Ihm erging es nicht anders als dem Nubier. Sein feiner Geruchssinn hatte ihm längst verraten, dass Ayla nicht getan hatte, wozu sie angeblich hergekommen war. Aber ihr das zu sagen, hätte sie nur in eine noch peinlichere Situation gebracht – und alle anderen Anwesenden auch. Doch er fragte sich, was sie mit dem kleinen Schauspiel beabsichtigt hatte.
Hasan schien sich wohl dasselbe gefragt zu haben. »Ich wollte, du würdest Vernunft annehmen, mein Kind«, sagte er gerade. »Du weißt, was auf dem Spiel steht.«
»Ich nicht«, sagte Abu Dun.
Hasan ignorierte ihn. »Ich weiß, dass du Angst hast«, fuhr er traurig fort. »Glaubst du denn, es würde mir anders gehen? Wir alle haben Angst.« Er deutete auf Kasim. »Glaubst du, er hätte keine Angst? Willst du, dass er ganz umsonst dieses Risiko auf sich genommen hat?«
»Das war doch nicht meine Entscheidung«, antwortete Ayla, jetzt wieder ganz im Ton eines verstockten Kindes. Ihr Blick löste sich endlich von Hasans Gesicht und suchte den Andrejs.
Du hast es mir versprochen.
»Doch, das war es«, antwortete Hasan traurig. »In dem Moment, in dem du weggelaufen bist.« Doch er setzte den sinnlosen Disput nicht fort, sondern bedeutete Ali mit einer müden Geste, sich seiner Schwester anzunehmen. Ayla wich einen halben Schritt vor ihm zurück, verschränkte trotzig die Arme vor der Brust und wandte sich dann mit einem beinahe flehenden Blick an Andrej.
Du hast es versprochen.
»Wartet«, sagte Andrej. Abu Dun runzelte die Stirn und sah ihn auf unmöglich zu deutende (aber gewiss nicht angenehme) Weise an, während Ali gehorsam innehielt. Doch sein Gesicht verfinsterte sich vor Zorn.
»Was soll das?«, fragte er scharf und hätte sicherlich noch mehr gesagt, hätte Hasan ihn nicht mit einer seiner kleinen Gesten zum Schweigen gebracht. Andrej ignorierte beides und wandte sich direkt an Ayla. »Wovor hast du so große Angst?«
»Ich will nicht, dass sie mir wehtun«, sagte Ayla.
»Niemand tut dir weh, mein Kind«, sagte Hasan und schüttelte den Kopf. »Und das weißt du auch.«
»Was tut ihr ihr an?«, wandte sich Andrej an Hasan. Auch wenn es weder der rechte Ort noch die rechte Zeit für diese Frage war, er musste sie stellen, schon, um Ayla zu beweisen, dass er zu seinem Wort stand und nicht zulassen würde, dass ihr ein Leid geschah.
»Gar nichts, du Dummkopf«, sagte Abu Dun, noch bevor Hasan auch nur den Mund aufbekam. Er schien sich im Übrigen dieselbe Frage wie Andrej zu stellen, denn auch er wirkte irritiert. »Merkst du eigentlich nicht, was dieses Kind mit dir
tut?«
Natürlich merkte er es – hielt Abu Dun ihn für einen Idioten? Ayla versuchte, ihn auf eine nicht einmal besonders geschickte kindliche Art zu manipulieren … aber machte es einen Unterschied? Sie hatte sich das alles wohl kaum ausgedacht, um sich die Zeit zu vertreiben oder ihrem Bruder und Hasan einen Streich zu spielen. Sie hatte große Angst, und das war alles, was zählte.
Außerdem stand es Abu Dun nicht zu, so über Ayla zu reden. Das stand niemandem zu.
Andrej machte zwei schnelle Schritte, die ihn zwischen Ali und das Mädchen brachten, und legte demonstrativ die Hand auf den Schwertgriff. »Ihr werdet mir jetzt sagen, was ihr mit ihr vorhabt«, sagte er. »Was wollt ihr ihr antun? Wovor hat sie solche Angst? Ich will eine Antwort, oder –«
»Oder?«, unterbrach ihn Abu Dun. So mühelos wie ein Erwachsener einen fünfjährigen Knaben schob er Ali aus dem Weg und baute sich breitbeinig und drohend vor Andrej auf. Seine gesunde Hand lag auf dem Schwert. »Das reicht, Hexenmeister. Hast du den Verstand – ?«
So schnell, dass Abu Dun die Bewegung vermutlich nicht einmal sah, riss Andrej den
Saif
aus der Scheide und schlug mit einem blitzschnellen aufwärtsgerichteten Hieb nach Abu Duns Gesicht. Der Schlag würde ihn nicht töten und sollte es auch nicht, aber wenn er sein überhebliches schwarzes Mohrengrinsen spaltete, dann würde ihn das vielleicht lehren, Ayla in Zukunft mit dem Respekt zu behandeln, der ihr zustand, und wenn das nicht reichte, dann –
Abu Duns Eisenhand schlug das Schwert so nachlässig zur Seite, als wischte er eine Fliege aus der Luft, und seine andere Hand landete mit gewaltiger Wucht in Andrejs Gesicht. Roter Schmerz explodierte, und um ein Haar hätte er das Bewusstsein verloren. Er erinnerte sich nicht, zurückgestolpert zu sein, aber mit einem Mal war die Mauer in seinem Rücken – und ihm kam die unbehagliche Erkenntnis,
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