Nekropole (German Edition)
der Wirklichkeit heraus und in eine Welt hineingetreten, die seine menschlichen Sinne nicht ganz zu erfassen vermochten. Immerhin spürte er, dass sich die allgemeine Aufmerksamkeit von ihm weg und auf irgendetwas anderes verlagerte, seine Chance, sich noch einmal auf Abu Dun zu werfen und ihn zu lehren, wie sträflich er ihn unterschätzt hatte.
Stattdessen suchte sein Blick den kleinsten und zartesten Schatten, um seine Zustimmung zu erheischen, doch auch Ayla hatte sich halb herumgedreht und sah in dieselbe Richtung wie alle anderen.
In dem Eingang, durch den sie hereingekommen waren, erschien eine Gestalt. Im hellen Gegenlicht war sie nur als scharf begrenzter Schattenriss zu erkennen. Die sonderbar betrunken anmutende Haltung, der von einer Seite auf die andere pendelnde Kopf und die schlurfenden Schritte ließen keinen Zweifel daran, womit sie es zu tun hatten.
Die Erkenntnis traf ihn vielleicht als Letzten, der Reaktion der anderen nach zu schließen, dafür aber mit solcher Wucht, dass er regelrecht in die Wirklichkeit zurückgeschleudert wurde und tatsächlich ins Straucheln geriet. Schon, um sich eine weitere Peinlichkeit zu ersparen, führte er die Bewegung mit einem großen Ausfallschritt zu Ende und hob sein Schwert auf. Niemand beachtete ihn. Selbst Abu Dun warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu und konzentrierte sich dann sofort wieder auf die näher torkelnde Gestalt, aber auch seine Hand lag jetzt auf dem Schwert. Die Ketten unter seinem Gewand klirrten leise, als er die metallenen Finger um den Schwertgriff schloss.
Als er sich jedoch in Bewegung setzen wollte, legte Ali ihm die Hand auf den Unterarm und schüttelte beinahe erschrocken den Kopf. Hasan sagte: »Warte.«
Abu Dun zog zwar gehorsam die Hand zurück, doch er machte ein abfälliges Gesicht. »Wollt Ihr ihn gesund beten, Eminenz«, fragte er, »oder braucht er noch Euren Segen, bevor wir ihn einen Kopf kürzer machen?«
»Ich kenne diesen Mann«, sagte Hasan.
»Und jetzt willst du ihn auf ein Schwätzchen einladen?«
Andrej wünschte sich, Abu Dun würde sich seinen Spott verkneifen, denn er sah, dass Hasan recht hatte. Die wie betrunken torkelnden Schritte, der leere Blick und die schlaffen Züge machten es schwer, ihn wiederzuerkennen, aber es war tatsächlich erst wenige Stunden her, dass sie alle diesen Mann lebendig gesehen hatten. Er gehörte zu Don Corleanis’ Schmugglern – oder hatte dazugehört, als er noch geatmet hatte.
Jetzt war er von etwas anderem beseelt … oder eher
besessen
, denn in ihm war nichts Lebendiges mehr, auch keine Seele. Als Andrej in ihn hineinlauschte und nach seiner Lebenskraft tastete, um sie ihm zu entreißen und seiner eigenen hinzuzufügen, war es, als hätte er in warmen Morast gegriffen, unter dessen Oberfläche etwas faulte. Er torkelte weiter.
Direkt in Aylas Richtung.
Ali machte ein verblüfftes Gesicht, und Hasan sah zugleich verwirrt und besorgt aus. Nur Aylas Reaktion war … sonderbar.
Auch sie war zurückgewichen und hatte die Hand vor den Mund geschlagen, wie um einen Schrei zu unterdrücken, doch was Andrej in ihren Augen las, das passte nicht zu diesem geschauspielerten Schrecken.
Da war fast so etwas wie … Erleichterung?
Aber welchen Grund sollte sie haben, und – ?
Etwas wie eine große, weiche Hand strich über die Innenseite seiner Stirn und wischte den Gedanken beiseite, und Andrej wandte sich wieder der heranschwankenden Gestalt zu und vergaß, was er gerade noch gedacht hatte.
Sein Zeitgefühl wollte ihm weismachen, dass eine schiere Ewigkeit vergangen war, seit er sich zu Ayla herumgedreht hatte – warum eigentlich? –, doch es konnte nicht mehr als ein buchstäblicher Augenblick gewesen sein. Der tote Schmuggler war nur zwei unbeholfene Stolperschritte näher gekommen, und obwohl Andrej nicht hingesehen hatte, wusste er dennoch, dass er sich selbst für eine Kreatur wie diese ausgesprochen langsam bewegte, irgendwie … unschlüssig, fast als … suchte er etwas.
»Das reicht jetzt«, sagte Ali entschlossen und zog sein Schwert. Doch nun war es Abu Dun, der ihn zurückhielt – mit der eisernen Hand und der Mischung aus Schmerz und jähem Zorn auf Alis Gesicht nach zu schließen nicht sonderlich sacht. Mit einem ärgerlichen Knurren machte er sich los, blieb dann aber stehen und sah der torkelnden Gestalt mit zusammengekniffenen Augen entgegen.
Wäre der Anblick nicht so grausam gewesen, man hätte darüber lachen können.
Die Gestalt schwankte so wild
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