Nekropole (German Edition)
sichtbar, nicht so, dass die Veränderung in Worte zu fassen wäre, aber wo er bisher nur Anspannung und Zorn gespürt hatte, war mit einem Male offene Feindseligkeit. Ein Kampf schien unvermeidlich und wäre wohl ausgebrochen, hätte Abu Dun nicht zuerst Andrej und dann auch Corleanis einfach aus dem Weg geschoben, um hinter den Stuhl zu treten und den Strick mit seiner eisernen Hand zu zerreißen. Der Junge kippte zur Seite und wäre vom Stuhl gefallen, hätte Corleanis ihn nicht aufgefangen.
»Was hast du dir dabei gedacht, du Narr?«, fragte Andrej. »Willst du mit Gewalt einen Kampf provozieren?«
»Der Bursche ist halsstarrig«, sagte Ali, als wäre das Erklärung genug. »Er weigert sich, auf meine Fragen zu antworten.«
»Weil Luigi ihm befohlen hat, nur mit mir zu reden, du Schlächter!«, krächzte Corleanis. »Dieser tapfere Junge würde eher sterben, bevor er mit einem wie dir spricht!«
»Was war hier los?«, fragte Andrej noch einmal. Abu Dun hatte den halb besinnungslosen Jungen inzwischen auf die Arme gehoben und trug ihn zu einem großen Tisch. Corleanis fegte alles, was darauf stand, mit einer einzigen Bewegung und unter gewaltigem Scheppern und Klirren beiseite. Ali wartete, bis Abu Dun den Jungen fast behutsam darauf abgelegt hatte. Stirnrunzelnd musterte er die neue künstliche Hand, bevor er Andrejs Frage beantwortete. »Er weiß, wohin sie unseren Herrn gebracht haben, aber er weigert sich, es zu sagen.«
»Weil er es nicht darf, du Narr!«, polterte Corleanis. »Ist das eure Vorstellung von Ehre, die Antworten auf eure Fragen aus euren angeblichen Verbündeten herauszuprügeln?«
»Es geht um das Leben unseres Herrn«, erwiderte Ali. »Jeder Moment, den er länger in der Gewalt seiner Entführer bleibt, kann über sein Schicksal entscheiden.«
»Und du glaubst, du erfährst es schneller, wenn du den armen Jungen totprügelst?« Corleanis bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick und streckte gleichzeitig die Hand aus. Einer seiner Männer reichte ihm einen Becher, den er dem Knaben vorsichtig an die Lippen setzte, während er mit der anderen Hand seinen Nacken stützte. Die Kraft des Jungen reichte kaum noch, den Kopf zu heben, geschweige denn, zu schlucken. Der Großteil des Wassers, das Corleanis ihm einzuflößen versuchte, lief an seinem Kinn herab und tropfte auf seine Brust. Andrej konnte jetzt sehen, wie übel Ali den Jungen zugerichtet hatte, seine Augen waren praktisch zugeschwollen, und er hatte zwei Zähne verloren, wenn nicht mehr. Der Anblick hätte ihn wütend machen sollen. Aber er spürte nichts. Scheinbar besorgt um den armen Jungen trat er näher an den Tisch heran und beugte sich über ihn, doch in Wahrheit sog er seinen Schmerz auf wie köstliches Manna.
Als er hochsah, begegnete er Abu Duns Blick.
Er wusste, was er tat.
Don Corleanis sagte etwas, das er nicht verstand, und Ali antwortete gepresst: »Dann frag ihn, und tu es schnell, bevor ich vollends die Geduld verliere!«
Corleanis begann leise und beruhigend auf den Jungen einzureden. Es dauerte eine geraume Weile, bis er überhaupt zu ihm durchdrang, und noch länger, bis er eine Antwort bekam.
Andrej hörte nicht hin. Er konnte es nicht. Etwas in ihm labte sich noch immer am Schmerz und an der Furcht des Jungen, und es wurde stärker. Es kostete ihn immer größere Anstrengung, ihn nicht zu packen und auch noch das letzte Leben aus ihm herauszureißen.
»Andrej!«, sagte Abu Dun. Nur dieses eine Wort, doch es riss Andrej in die Wirklichkeit zurück. Ali fuhr zu ihnen herum und musterte sie nachdenklich.
Andrej wich ihren Blicken aus und wandte sich an Corleanis. »Was sagt er?«
Corleanis ignorierte ihn. Mit sanfter Stimme redete er auf den Jungen ein, und er bekam auch eine Antwort. Andrej verstand nicht, was der Junge sagte. Don Corleanis machte ein ungläubiges Gesicht, wiederholte seine Frage noch zweimal und bekam jedes Mal dieselbe Antwort. Schließlich beließ er es bei einem Nicken und bedeutete einem seiner Männer, sich weiter um den Knaben zu kümmern. Er sah ein wenig verwirrt aus, als er sich wieder ganz zu ihnen umdrehte, fand Andrej. Vielleicht erschrocken.
»Luigi hat in Erfahrung gebracht, wo sie ihn hingebracht haben«, sagte er.
»Und?«, fragte Ali unwirsch. »Mach es nicht so spannend! Wo ist er?«
»Im Castel Sant’ Angelo«, antwortete Corleanis mit dumpfer Stimme. »Sie haben ihn in die Engelsburg gebracht.«
Kapitel 8
Das Castel Sant’ Angelo erhob sich wie ein von
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