Nekropole (German Edition)
sterbenden Mann, ihn um seinen Lohn gebracht zu haben: Schmerz und Qual oder zumindest Furcht vor dem nahenden Tod.
Der Assassine, der ihm gefolgt war, eilte auch jetzt nicht an ihm vorbei, sondern forderte ihn nur unwirsch auf, weiterzugehen. Trotz seines Ärgers darüber nickte Andrej nur knapp und nahm sich vor, sich später eingehender mit dem Mann zu befassen.
Der Assassinen-Hauptmann kniete mittlerweile neben dem Posten und hatte den Helm abgenommen. Mit der einen Hand machte er sich am Hals des Toten zu schaffen und versuchte mit zwei Fingern, den Blutstrom zu stillen, der aus seiner zerrissenen Halsschlagader sprudelte, während er die andere auf fast identische Art mit zusammengelegtem Zeige- und Mittelfinger über sein Gesicht und seine Stirn hielt, wie um ihn zu segnen – eine fast obszöne Geste eingedenk der Tatsache, dass er mit genau dieser Hand den fünfklingigen Dolch überhaupt erst geworfen hatte, dem der Mann diese tödliche Wunde verdankte.
Alis Lippen bewegten sich und formten lautlose Worte, die den Sterbenden zu beruhigen schienen, und erst in diesem Moment begriff Andrej, dass er sich nicht täuschte: Ali segnete den Mann tatsächlich.
»Was soll das?«, fragte er.
Ali ignorierte ihn, doch der Soldat versuchte, den Kopf zu drehen. Noch mehr Blut sprudelte aus seinem Hals. Sein Blick begann sich bereits zu trüben. Er starb. Jetzt. Und Andrej musste sich mit aller Macht beherrschen, um nicht in ihn hineinzugreifen und die letzten verlöschenden Funken kostbarer Lebenskraft aus ihm herauszureißen.
»Beruhige dich, mein Sohn«, sagte Ali. »Kämpfe nicht dagegen an, das macht es nur schwerer für dich.«
»Was soll das?«, fragte Andrej noch einmal und mit einer Stimme, die vor Zorn bebte. »Erst tötest du diesen Mann, und dann …«
»Schweig!«, fuhr ihn Ali an. »Ich werde diesem Mann die Ehre erweisen, die einem gefallenen Gegner zukommt! Oder ist das da, wo du herkommst, nicht üblich?«
Andrej war ziemlich sicher, dass Ali ganz genau wusste, wo er herkam, und was dort üblich war und was nicht.
Er gedachte auch nicht, sich provozieren zu lassen.
»Es gibt noch einen dritten Wächter hier unten«, fuhr Ali fort. »Geh und such ihn, bevor er Alarm schlägt. Dann wäre alles verloren.«
»Soll ich ihn umbringen, oder möchtest du das selbst übernehmen?«, fragte Andrej.
Ohne zu antworten beugte Ali sich tiefer über den Mann, um ihm tatsächlich, so unglaublich es war, die Sterbesakramente zu erteilen. Andrej war so verblüfft, dass er nicht einmal zornig wurde, allenfalls zweifelte er an Alis Verstand.
Aber er konnte auch nicht bleiben. Der Blutstrom, der unter Alis Fingern hervorquoll, verlor zusehends an Kraft, aber Kopf und Schultern des Mannes lagen bereits in einer großen dunkelroten Lache, von der ein immer verlockenderer Geruch ausging. Er hatte jetzt nur noch die Wahl, dem lautlosen Schreien in sich nachzugeben oder zu tun, was Ali von ihm erwartete.
Er entschied sich für Letzteres.
In diesmal umgekehrter Reihenfolge ging er hinter dem Assassinen her und folgte ihm bis zum Ende des niedrigen Ganges zu einer Tür aus schweren eisernen Gitterstäben, hinter der sich der Gang verzweigte. An beiden Enden der beiden Stollen brannte eine rußende Fackel, die nicht wirklich viel Licht, dafür aber genug Qualm verbreitete, um das Atmen schwer werden zu lassen.
Der Assassine gebot ihm, den linken Gang zu inspizieren, während er selbst einen Dolch zog und mit der anderen Hand das Gitter aufschob, um nach rechts zu gehen. Von dem dritten Posten, von dem Ali gesprochen hatte, war keine Spur zu sehen, aber es gab auch keinen weiteren Ausgang. Dicht hinter dem Wüstenkrieger trat Andrej durch die Gittertür und zog ebenfalls seine Waffe, auch wenn ihm seine scharfen Sinne längst verraten hatten, dass sie allein waren.
Auf beiden Seiten des Ganges gingen jeweils drei schmale Türen ab, die Andrej nun öffnete, um die dahinter befindlichen Räume zu inspizieren – allerdings nur sehr flüchtig, denn es handelte sich um winzige, licht- und luftlose Kerkerzellen mit faulendem Stroh auf dem Boden, das einen ekelhaften Geruch verströmte und Geschichten von unendlichem Leid erzählte. Der Gestank schnürte Andrej schier die Kehle zu, und sein Fuß begann wieder zu schmerzen, schlimmer als jemals zuvor.
Er inspizierte jede einzelne Zelle und schlug sogar mehrmals mit der flachen Hand gegen die Stirnwand (obwohl er sich dabei einigermaßen albern vorkam), um ihre Festigkeit zu
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