Nekropole (German Edition)
seiner Hand wies auf den dritten Assassinen, dann auf Andrej und den letzten Wüstenkrieger. »Du bewachst den Paseo. Andrej und du, ihr kommt mit mir.«
Andrej fragte sich zwar erneut, wer Ali eigentlich die Befehlsgewalt über ihn erteilt hatte, aber er war zugleich auch noch immer viel zu benommen, um zu protestieren, oder sich gar zu widersetzen. Dazu war jetzt auch nicht der Moment.
Unwillkürlich fragte sich Andrej, wie es kam, dass Ali sich hier so gut auskannte. Doch er war noch zu benommen, um klar zu denken. Und zu abgelenkt, denn er brauchte seine Kraft, um das zu bändigen, das tief in ihm an seinen Ketten zerrte.
Diese Gier war ihm nicht neu. Dieses Ungeheuer, das ihm zugleich seine übermenschlichen Kräfte verlieh, bekämpfte er schon, seitdem es das erste Mal Herrschaft über ihn zu erlangen versucht hatte, und er hatte längst aufgehört zu zählen, wie oft er daran gezweifelt hatte, dass er diesen Kampf gewinnen und nicht doch am Ende der düsteren Verlockung erliegen würde.
Doch nie zuvor hatte er es so sehr
gewollt
, vom dunklen Teil seiner Existenz besiegt zu werden
.
»Bleib hinter mir«, befahl Ali, machte jedoch keine Anstalten, weiterzugehen, sondern streifte seinen Mantel ab und ließ sich neben einem der toten Soldaten in die Hocke sinken.
Während er ihm den Helm abnahm und sich daranmachte, ihn aus dem gestreiften Wams zu schälen, blickte Andrej sich um. Allzu viel gab es indes nicht zu sehen. Angesichts der gewaltigen Festung hatte er ein ebenso beeindruckendes Inneres erwartet, doch der große Raum war schmucklos und wurde nur von einer einzelnen, kleinen Fackel erleuchtet, sodass er seine Umgebung mehr erahnte als sah. Eine Treppe führte nach oben in die Dunkelheit, eine zweite, schmalere nach unten. Die Wände aus großen Steinquadern waren unverputzt. Von irgendwoher kamen Geräusche, die er nicht genau zu identifizieren vermochte, und vielleicht auch Stimmen, aber auch dessen war er sich nicht ganz sicher. Von außen präsentierte sich das Castel Sant’ Angelo dem Betrachter als trutzige Burg, die jedem Angreifer zu widerstehen vermochte, ihr Inneres erinnerte Andrej an einen düsteren Kerker, weniger dazu bestimmt, niemanden herein- als vielmehr
hinaus
zulassen. Leid lag in der Luft, der Geruch zahlloser vergossener Tränen und das Echo ungehört verhallter Schreie. Er dachte an all die düsteren Geschichten, die er über diesen Ort gehört und niemals geglaubt hatte, und wusste plötzlich, dass sie wahr waren.
Ali hatte den Toten halb entkleidet, streifte sich sein blutiges Wams und den Helm über und hob im Aufstehen auch die große Hellebarde auf. Ohne ein weiteres überflüssiges Wort ging er voraus und verschwand auf der Treppe nach unten. Als Andrej ihm nachging, fiel ihm auf, dass der andere Assassine ihm in auffallend großem Abstand folgte.
Er verscheuchte den Gedanken, der zu anderen Überlegungen führen wollte, die er nicht anstellen mochte.
Noch nicht.
Die Treppe führte überraschend steil und unerwartet weit nach unten und mündete in einen Teich aus düsterrotem Licht, in dem Schatten schwammen. Jemand rief etwas, das er nicht verstand, und Ali antwortete mit einem Laut, der sich wie ein Wort anhörte, aber keines war. Fast unmerklich beschleunigte er seine Schritte, und die Stimme wiederholte ihre Aufforderung, lauter und deutlich schärfer jetzt.
Alis Antwort bestand darin, die Hellebarde zu schleudern, wie andere es mit einem leichten Ger getan hätten, und loszustürmen, noch bevor die Waffe fünfzehn oder zwanzig Stufen tiefer ihr Ziel traf und sich mit solcher Wucht in die Brust des Mannes bohrte, dass er gegen die Wand geschleudert und regelrecht daran festgenagelt wurde. Noch ehe er zusammenbrechen konnte, hatte Ali ihn erreicht, riss die Waffe aus seinem Leib und machte eine blitzartige Geste mit der anderen Hand. Etwas Kleines und Dunkles flog davon, und Andrej hörte einen Laut, der zu einem Schrei hatte werden wollen, aber nur in einem nassen Keuchen endete.
Ali stürmte weiter und war bereits bei seinem zweiten Opfer, als Andrej neben dem sterbenden Soldaten anlangte und sich neben ihm auf ein Knie sinken ließ. Der Mann lebte noch, aber es gab nichts mehr, was er noch für ihn tun konnte. In den weit aufgerissenen Augen standen nicht einmal Schmerz oder Furcht geschrieben, sondern nur fassungsloses Staunen. Wieder empfand Andrej etwas, dessen er sich schämen sollte, es aber nicht tat: Ein tiefes Bedauern, fast schon Zorn auf den
Weitere Kostenlose Bücher