Nekropole (German Edition)
sagt, Andrej«, sagte er. »Es ist vollkommen gleich, ob Gott der Herr dich nach nur einigen wenigen oder nach sehr vielen Jahren zu sich ruft; wenn der Moment naht, dann war es immer zu kurz. So ist nun einmal die Natur des Menschen.«
»Dabei sollte man meinen, dass du es kaum abwarten kannst«, sagte Abu Dun. »Freust du dich denn nicht, endlich in euer Paradies einzugehen … was immer du auch darunter verstehen magst?«
»Gott hat den Menschen nun einmal so geschaffen, dass er sein Leben lebt, so lang er kann«, antwortete Hasan. »Er wird seine Gründe dafür haben.«
Abu Dun verdrehte in gespieltem Entsetzen die Augen. »Mir ist gerade wieder eingefallen, warum es zwecklos ist, mit jemandem wie dir zu diskutieren.«
»Was fehlt dir?«, fragte Andrej.
»Was mir fehlt?« Hasan hielt inne. »Eigentlich nichts Besonderes«, antwortete er dann. »Das eine oder andere Jahrzehnt. Ein wenig Zeit.« Er sah zuerst Andrej, dann Abu Dun und schließlich wieder Andrej an, als erwarte er, einen von ihnen im nächsten Moment unter seinen Mantel greifen und ihm eine großzügige Portion des Gewünschten aushändigen zu sehen.
»Wir haben genug davon«, sagte Abu Dun fröhlich. »Wahrscheinlich werde ich wirklich, wenn es so weit ist, wie alle anderen lamentieren und jammern und ebenfalls behaupten, dass es zu wenige Jahre waren … aber ich frage mich trotzdem, warum wir gottlosen Heiden und Ungläubigen von deinem Gott so viel Zeit mehr zugestanden bekommen haben als gläubige Männer wie du.«
»Wer sagt dir denn, dass es eine Gnade ist?«, fragte Hasan nachsichtig. »Du musst viel länger darauf warten als ich, ins ewige Paradies unseres Herrn einzugehen. Vielleicht ist deine Unsterblichkeit ja kein Geschenk, sondern eine Strafe.«
»Ich wüsste nicht, wofür«, sagte Abu Dun zwar, nickte allerdings. »Dennoch ein interessanter Gedanke. Wenn er zutrifft.«
»Das werden wir wohl erst herausfinden, wenn wir beide unserem Schöpfer gegenüberstehen«, sagte Hasan.
»Dann bist du mir gegenüber im Vorteil. Denn du wirst es sehr viel eher wissen.«
»Abu Dun, bitte«, seufzte Andrej. »Das ist …«
»… schon in Ordnung, Andrej«, unterbrach ihn Hasan. »Manchmal tut es gut, mit jemandem zu reden, der einfach auszusprechen wagt, was er denkt. Es ist nicht immer angenehm, nur von Männern und Frauen umgeben zu sein, die nicht den Mut haben, einem die Wahrheit zu sagen.«
»Wenn es wirklich so leicht ist, dir eine Freude zu bereiten«, sagte Abu Dun fröhlich, »dann fallen mir noch eine ganze Menge anderer Dinge ein, die sich dir niemand zu sagen traut. Oder die niemand wagt, zu tun.«
Andrej sah Hasan mit festem Blick an. »Du bist krank«, vermutete er. »Was ist es?«
»Ich fürchte, nichts, wogegen mir ein Arzt helfen könnte, so wenig wie irgendein Gebet«, sagte Hasan. »Es ist die einzige Krankheit, gegen die es wohl nie eine Medizin geben wird und die irgendwann jeden trifft. Sie nennt sich Alter, weißt du?«
Andrej nickte. Abu Dun dagegen schüttelte heftig den Kopf und ließ seine Eisenhand im gleichen Takt auf- und zuschnappen. »Nein. Noch nie davon gehört. Was soll das sein?«
Andrej achtete nicht auf ihn. »Gestern hattest du schon die gleiche Krankheit.«
»Aber man hat es mir noch nicht so deutlich angesehen, ich weiß«, seufzte Hasan. »Die Reise war wohl doch anstrengender, als ich mir eingestehen wollte. Ich fürchte, dass es die eine oder andere menschliche Schwäche gibt, gegen die auch ich nicht gefeit bin.«
»Die eine oder andere?«, fragte Abu Dun.
»Und an welche denkst du in diesem speziellen Fall?«, fragte Andrej. »Schwäche?«
»Eitelkeit«, antwortete Hasan. »Ich wollte nicht zugeben, dass es gewisse Dinge gibt, die ich nicht mehr so einfach bewerkstellige wie vor zehn Jahren. Oder dreißig. Dann wäre ich zumindest sicher, meine Aufgabe noch zu Ende bringen zu können.«
»Du willst nicht zufällig an unser Mitgefühl appellieren?«, fragte Abu Dun.
»Ich lasse nicht gerne etwas Unerledigtes zurück«, antwortete Hasan, schwieg einen ganz kurzen Moment und bemühte sich dann, seinen Worten mit einem Lächeln wieder etwas von ihrem Gewicht zu nehmen. »Aber keine Sorge, Andrej. Ich habe nicht vor, schon morgen zu sterben. Dennoch bleibt uns nicht viel Zeit.«
»Wofür?«, fragte Andrej im gleichen beiläufigen Tonfall wie gerade schon einmal. Doch selbst wenn Hasan darauf hereingefallen wäre (was ganz gewiss nicht geschehen wäre), so wäre er nicht dazu gekommen zu
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