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Nele Paul - Roman

Titel: Nele Paul - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Birbaek
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beiden Händen, um das Kniegelenk auszurichten, und klopfte dann auf den Stuhl zu ihrer Rechten. Irgendwo plärrte leise ein Radio, irgendwo lästerten zwei Schwestern über einen Patienten. An der gegenüberliegenden Wand war ein Fleck. Jemand hatte eine Mücke erledigt.
    »Wie geht es ihr?«
    »Schläft immer noch. Beruhigungsmittel.« Ich setzte mich und stieß meinen Fuß gegen die Tüte. »Was ist da drin?«
    »Ich hab ihr ein paar Sachen mitgebracht«, sagte Mor und schüttelte ihren Kopf. »Gibt es wirklich keinen Zweifel? Ich kann es einfach nicht glauben, dass Hans …«
    »Ich will nicht über ihn reden.«
    Mor bedachte mich mit einem Blick, den ich noch nie an ihr gesehen hatte. Sie presste ihre Hände aneinander, und ihre Augen wurden feucht.
    »Es ist nicht, dass ich ihn schützen will. Es ist nur, als würde mein Gedächtnis nicht stimmen, als müsste ich alles neu überdenken. Ich meine, wir … wir haben so viel über Charlottes Tod gesprochen, er hat manchmal geweint und … Er kann mir das doch nicht alles nur vorgespielt haben.« Sie sah zu Boden. »Sein Schmerz muss doch echt gewesen sein.« Ich widerstand dem Drang, sie anzuschreien. Sie konnte nichts dafür. Sie kannte keine Täter. Sie wusste nicht, wie oft sie sich bemitleideten. Manche handelten im Affekt, andere auf Droge, keiner hatte es je gewollt, und schuld waren immer die anderen. Die Ehefrau, die eine eigene Meinung hatte, das Kind, das nicht aufhörte zu weinen, der fremdeTyp, der in einer lauten Kneipe Was? gefragt hatte, sie alle hatten es nicht anders gewollt.
    Mor atmete schwer. In dem hellen Licht sah sie aus, als wäre sie um zehn Jahre gealtert. Ich legte meinen Arm um ihre Schultern.
    »Hast du überhaupt geschlafen?«
    »Nicht viel.« Sie lächelte kläglich. »Bei uns ist die Hölle los. Die ganzen Reporter fragen nach dir und Nele. Sie haben sogar meinen Rollstuhl gefilmt, und …«, sie holte tief Luft, »… wenn ich die Augen schließe, sehe ich Charlotte vor mir.«
    Sie begann stoßweise zu atmen. Ich drückte sie an mich.
    Eine Schwester kam den Gang hinunter. Ich behielt sie im Auge. Vor ein paar Stunden hatte jemand einer Krankenschwester eine Kamera in die Hand gedrückt und ihr fünf Hunderter für ein Foto von uns geboten. Seitdem hatten wir ein Zimmer am Ende des Flures, so musste man nur eine Richtung verteidigen, falls die Presse eine neue Offensive startete. Es konnte eigentlich nur eine Zeitfrage sein, denn wie ich hörte, hatten Rokko und ich mittlerweile bundesweite Berühmtheit erlangt. TV-Teams und Reporter hatten Sturm geklingelt, bis ich mein Handy ausgestellt hatte. Meine großen fünfzehn Minuten liefen da draußen ohne mich ab.
    Bevor die Schwester in eines der Zimmer abbog, warf sie uns einen neugierigen Blick zu. Ich sah sie böse an.
    »Glaubst du, er hat sie wirklich umgebracht? Gibt es keinen Zweifel? Ich meine, in all den Jahren habe ich kein einziges Mal mitbekommen, dass die beiden Streit hatten. Kann es kein Unfall gewesen sein?«
    Ich erzählte ihr, was es an Indizien gab. Es konnte ein Unfall gewesen sein, aber dagegen sprach Hans’ Verhalten und der Notruf. Niemand vertuschte grundlos einen Unfall, niemand rief den Notruf und fiel wenig später eine Treppe runter. Die Frage war eigentlich nur, ob es Mord oderTotschlag gewesen war.
    »Und was glaubst du?«
    »Scheiße, was weiß ich? Bei den Indizien wäre er vor Gericht vielleicht wegen Mordes verurteilt worden, ist doch völlig egal, was mit Hans ist, er ist tot. Aber Nele liegt da drin und …«
    Meine Stimme erstickte. Ich atmete durch und sah an die Decke. Mor nahm meine Hand.
    »Fahr nach Hause, dusch und schlaf ein paar Stunden. Ich bleibe so lange hier.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich geh nicht weg. Immer, wenn ich weggehe, passiert’s. Ist dir das nicht aufgefallen? Immer, wenn ich sie alleine lasse, passiert’s.«
    »Du kannst nicht die ganze Zeit auf sie aufpassen.«
    »Warum nicht?«
    »Ach, Paul …« Sie sah mich so zärtlich an, dass mir Tränen in die Augen schossen. »Wir wussten es nicht.«
    Ich nickte, aber ich sah die Wahrheit in ihren Augen: Mit fünf hatte man meinem Mädchen den Glauben an ihre Wahrnehmung genommen, und wir hätten es merken müssen. Irgendwann hätten wir es merken müssen. Wir hatten nicht hingeschaut.
    Ich stand auf, warf einen Blick in Neles Zimmer und setzte mich. Mor nahm meine Hand. Die Schwester lief wieder den Gang entlang und beäugte uns, bevor sie in einem der Zimmer verschwand.

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