Nele Paul - Roman
schlitterten wir auf das Grundstück. Fast hätten wir Mor umgefahren, die im Rollstuhl saß und mit aufgerissenen Augen auf das Haus zeigte. Sie rief irgendetwas. Rokko ging in die Bremsen. Ich sprang aus dem schlitternden Wagen.
»Was ist?«
Sie gestikulierte wild zur Villa.
»Nele!«
Sie rief noch etwas, doch ich rannte bereits durch die Haustür. Die Hitze nahm mir den Atem, alles war voller Rauch. Hinter mir rief jemand meinen Namen. Ich rannte durch den Flur ins Wohnzimmer.
Und da saß sie.
Inmitten der Flammen saß sie regungslos da und schaute sich eine brennende Wand an, wie ein Museumsbesucher ein Gemälde. Sie trug nichts als eine kurze Hose, ein T-Shirt und ihre Laufschuhe. Sie schien direkt aus dem Bett gesprungen zu sein. Die Schnürsenkel waren nicht zugebunden. Einer davon hatte Feuer gefangen.
»Nele! Komm! Wir müssen raus!«
Als ich ihren Arm berührte, wirbelte sie herum. Ein Schatten schoss auf mich zu. Ich blockte den Schlag. Sie warf sich gegen meine Beine. Ich verlor das Gleichgewicht und zog sie mit mir. Als ich auf dem Boden landete, fiel sie auf mich, etwas knackte in meinem Arm.
»GEH WEG!«, schrie sie und schlug nach meinem Gesicht. Ich wehrte ihre Schläge ab und rollte mich auf sie.
»Hör auf! Ich bin’s! Paul!«
»LASS … MICH … LOS!«, ächzte sie und schlug weiter. Ihre Augen brannten. »GEH … WEG!«
Irgendwo im Haus krachte etwas.
»Nele!«, rief ich. »Wir müssen …«
Sie fletschte die Zähne und versuchte, mir ihre Stirn ins Gesicht zu stoßen. Ich schlug ihre Arme zur Seite underwischte sie dabei am Kinn. Ihre Zähne klackerten gegeneinander. Ihr Hinterkopf schlug hart auf den Boden. Sie verdrehte die Augen und wurde schlaff.
Ich rollte mich auf die Knie, aber als ich mit ihr aufstehen wollte, pendelte mein Arm schlapp herunter. Mir wurde schlecht. Meine Augen tränten. Die Hitze nahm mir den Atem. Ich packte Neles Hand und schleppte sie in Richtung Flur. Wieder stürzte irgendwo etwas ein. Funken flogen. Ein Hitzeschwall kam mir entgegen. Da kam Rokko hereingelaufen.
»Was!«
»Nele!«
Er riss sich Nele auf die Arme und lief vor mir her. Ich presste meinen linken Arm mit dem rechten an meinen Körper und folgte ihm nach draußen. Nach der Hitze im Haus war die Nachtluft wie Creme auf der Haut.
Rokko trug Nele ein Stück vom Haus weg und legte sie neben der Gartenmauer auf die Erde. Ich ließ mich daneben auf die Knie fallen. Neles Gesicht war voller Ruß. Ihre Haare waren angekokelt, ihre Laufschuhe schwelten. Ein dünnes Blutrinnsal tropfte aus ihrem Mund auf das Shirt. Ich zog ihr Shirt hoch und rollte sie herum, um sie auf Wunden zu untersuchen. Die einzige Wunde, die ich fand, hatte ich ihr selbst zugefügt. Ich riss an ihren Schuhen.
Mor kam herangefahren und ließ sich aus dem Rollstuhl gleiten.
»O nein …«, flüsterte sie atemlos.
Ich warf ihr einen schnellen Blick zu.
»Was zum Teufel ist passiert??«
»Ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gehen hören. Auf einmal sah ich den Feuerschein. Ich hab dich angerufen und bin losgefahren.«
Ich riss Nele die schwelenden Schuhe und Socken herunter. Ihre Füße schienen in Ordnung zu sein. Sie konnte nicht lange im Haus gewesen sein. Ich atmete auf.
»Nele, Süße, dir ist nichts passiert, alles wird gut.«
Ich kam endlich auf den Gedanken, sie in die Seitenlage zu rollen. Als ich ihr Gesicht untersuchte, schlug sie die Augen auf. Ihr Blick war verschwommen und orientierungslos.
Mor legte ihre Hand auf Neles Wange und streichelte sie.
»Keine Angst, Engelchen, Mor, Paul und Rokko sind bei dir. Es ist alles gut. Wir passen auf dich auf.«
»Nicht wehtun«, sagte Nele. Ihre Stimme klang hell, wie die eines Kindes.
Mor starrte Nele mit offenem Mund an. Rokko sah sich um.
»Nicht Mama wehtun …«, sagte Nele.
Sie sah uns bittend an. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie rollte sich zusammen und lutschte am Daumen. Ich roch den stechenden Geruch von Urin. Eis breitete sich in mir aus.
Mor warf mir einen verwirrten Blick zu und legte dann ihre Hände schützend auf Neles Bauch.
»Engelchen, niemand tut dir oder deiner Mama weh. Hier sind nur Mor und Paul und Rokko. Wir passen auf dich auf. Hier kann dir niemand wehtun.«
Martinshörner kamen näher. Fahrzeuge kamen den Hügel hoch. Ich nahm Neles Hand.
»Süße, ich bin’s, Paul«, ich drückte ihre Hand. »Keine Angst, alles wird gut.«
Ein Streifenwagen schlitterte aufs Grundstück. Plötzlich fiel mir ein, was nicht stimmte.
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