Nele Paul - Roman
angerührt. Die Saiten waren durch. Wahrscheinlich würden sie gleich reißen und davon ablenken, dass ich keine Akkordfolge mehr zusammenbekäme.Früher hatte ich jeden Tag geübt, damals, als wir mit unserer Coverband auf Schützenfesten und Hochzeiten gespielt hatten. Es schien mir tausend Jahre her zu sein.
»Hast du einen bestimmten Wunsch?«
»Ja, verspiel dich nicht«, sagte Mor.
Ich lachte, und Nele wünschte sich Just the way you are . Ich schraddelte ein kleines Intro. Klang furchtbar. Mor fabrizierte Rauchwolken und musterte mich mit zusammengekniffenen Augen. Nele begann zu singen. Ihre Stimme löste kleine Gänsehauteruptionen auf meinen Armen aus. Ihre Gesangsstimme hatte mit ihrer Sprechstimme nichts gemein. Es war, als würde eine zweite Nele in ihr erwachen, wenn sie sang. Das Timbre kroch einem unter die Haut und biss sich in die Seele, wie ein Krokodil in einen Touristen. Mor begann mitzusingen. Ich versuchte, hier und da eine kleine improvisierte Melodie einzustreuen – und verhaute einen Lauf. Beide sahen mich an. Ab da spielte ich Grundakkorde. Die Stimmen der beiden breiteten sich über den Garten aus und drangen über die Felder.
Nach dem letzten Ton saßen wir da und grinsten uns an. Der Moment wurde davon getrübt, dass November ein Geräusch von sich gab, aufstand und ins Haus verschwand. Mor begann zu gickeln. Sie versuchte, es zu unterdrücken, und machte alles nur noch schlimmer. Nele stieg prustend ein. Die beiden gickelten und brachen schließlich in lautes Gelächter aus. Keine Chance, sich rauszuhalten. Wir saßen da, klammerten uns an die Gartenstühle und hielten uns die Bäuche. So ein Augenblick war das.
Wir joggten gemächlich den Weg zum Steinbruch hoch. November pirschte durchs Unterholz auf der Suche nach einer Kaninchendame, die er zum Kichern bringen konnte. Die Sonne hing auf halbmast, doch noch immer brach uns der Schweiß aus. Als wir den Hügel hochgelaufen waren, hatte Nele mehrmals zur Villa hinübergeschaut, doch ihrkam keine Frage über die Lippen. Vielleicht fehlte ihr dafür die Luft. Sie schnaufte und wirkte nicht mehr so fit wie früher. Vielleicht kam es mir auch bloß so vor, weil ich jetzt fitter war. Früher hatte ich am liebsten abgehangen. Mein Tag bestand aus Nele, Gitarre und Mors Essen. Ob es zehn oder fünfzehn Kilo zu viel gewesen waren, jedenfalls hatte ich damals leichte Komplexe und fragte mich an schlechten Tagen immer wieder, ob Nele mich wegen meines Körpers verlassen hatte. Diesmal machte der Gedanke mir nichts aus. Sie war wieder da und ich in Topform. Wenn sie diesmal gehen würde, dann nicht wegen meines Körpers. Prima.
Sie schnaufte schwerer. Ich drosselte das Tempo. Wir trabten bis zur Felsplatte, wo wir stehen blieben und die Augen gegen die untergehende Sonne zusammenkniffen. Sie stützte sich auf die Knie, atmete schwer und schaute über den See. Die untergehende Sonne spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, die funkelte und blitzte. Außer uns waren nur noch ein paar Angler da, die auf ihren festen Plätzen zwischen den Klippen auf Klappstühlen saßen und von Riesenwelsen träumten.
»Wow …«, sagte Nele ehrfurchtsvoll. »Ich hatte ganz vergessen, wie schön es hier ist.« Sie trat einen Schritt auf die Felskante zu, hielt sich eine Hand über die Augen und schaute in die Tiefe. »Sterben hier immer noch so viele?« »Nein, die sind jetzt da drüben am Kunststrand.« Ich zeigte zu dem aufgeschütteten Strand hinüber, der sich um diese Uhrzeit schon fast wieder geleert hatte. »Aber da sterben auch noch zu viele«, fügte ich hinzu und dachte an die Alleinerziehende, der ich die Botschaft vom Tod ihrer Tochter überbracht hatte. Es war jetzt acht Jahre her, aber immer noch nicht lange genug, um sie zu vergessen. Maria Schneider. Damals zerbrach ein Mensch vor meinen Augen, und es gab nichts, womit ich ihren Schmerz hätte lindern können. Ich hatte sie danach noch einige Male in der Stadtgetroffen, und immer, wenn sie mich sah, fiel ihr Gesicht in sich zusammen. Sie wirkte, als hätte sie Satan persönlich getroffen. Ein Leben lang würde ich sie daran erinnern, dass sie ihr Kind verloren hatte. Wie musste es erst sein, wenn man sein Leben lang Polizist im Außendienst war. Traf man dann überall Leute, die man an Leid und Schmerz erinnerte? Noch ein Grund, im Innendienst zu bleiben.
»Unglaublich«, sagte Nele, die immer noch mit zusammengekniffenen Augen übers Wasser schaute. »Man fühlt sich wie Ikarus.«
»Ist
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