Nele Paul - Roman
schon jaulte. Jeder dieser Meter kostete mich ein paar Minuten Arbeit. Als ich die Achse endlich von ihren Fesseln befreit und alles wieder zusammengeschraubt hatte, setzte ich mich zum Verschnaufen in den Rollstuhl und schaute mich zum ersten Mal an diesem Tag bewusst um. Über den Feldern hing ein leichtes Flimmern. Circa einen Kilometer entfernt kreiste ein Bussard in der Luft. Die Medien nannten es einen Rekordsommer, was normalerweise kein Grund zur Freude war, sondern ein weiteres Zeichen der globalen Erwärmung. Doch das Thema, das mir sonst graue Haare verpasste, perlte heute an mir ab. Heute war es nur ein schöner Sommertag.
Ich zog mir das Hemd aus und genoss das Gefühl der Sonne auf der Haut. Während ich dasaß, trat Nele auf den Hof. Als sie mich im Rollstuhl sitzen sah, verzog sich ihr Gesicht zu einem schiefen Grinsen. Sie kam feixend näher, drückte mir ein kaltes Bier in die Hand.
»Ich dachte, du könntest was Kaltes gebrauchen.«
»Danke.« Ich trank einen Schluck. Das Bier drang in meine Brust wie eine vereiste Schwertklinge. »Genau richtig.«
»Ich hab die Flasche kurz ins Eisfach gelegt.«
Ich sah über die Felder und brauchte einen Augenblick. Eine Flasche Bier rechtzeitig zum Feierabend kurz insEisfach legen. Mir kam es vor, als hätte ich in den letzten Jahren nichts Intimeres erlebt. Ich musste aufpassen, dass ich mich nicht völlig lächerlich machte.
»War wirklich eine großartige Tour damals. Weißt du noch – Dortmund?«
Sie packte das Shirt und zog daran, um sich die Tourtermine anzuschauen. Ich erhaschte einen Blick auf ihren Bauch, der einst flach und hart gewesen war. Jetzt wies er eine Rundung auf. Wäre bestimmt schön, seine Wange draufzulegen.
»Kopenhagen war auch gut«, sagte sie. Sie schnappte sich mein Bier und nahm einen Schluck. »War ’ne schöne Zeit. Einfach den guten Bands nachreisen.«
»Jeden Abend ein großes Konzert.«
»Jeden Tag eine Anreise.«
Sie lächelte und tippte mit dem Finger auf den Hamburgtermin. Wir sahen uns an, und ich spürte eine überwältigende Sehnsucht danach, sie in den Arm zu nehmen. Sie senkte ihren Blick und gab mir die Flasche wieder.
»Essen in einer halben Stunde.«
Sie ging zum Haus.
»Hey«, rief ich. »Gehen wir nachher Sonnenuntergang gucken?«
Sie hielt an, drehte sich um, legte eine Hand über ihre Augen und kniff sie gegen die Sonne zusammen. Wie sie so dastand, war sie vielleicht die schönste Frau, die ich je gesehen hatte.
»Au ja.«
Sie lächelte und verschwand ins Haus. Ich trank einen Schluck Eisbier und schaute über die Felder. Der Bussard kreiste noch immer, und ich erinnerte mich an tausend Dinge. Es war, als hätten meine Nerven und Synapsen schlagartig Alzheimer überwunden. Zum ersten Mal seit Jahren machte ich mir nichts vor: Ich hatte nie die Hoffnung aufgegeben, dass sie wiederkommt. In der ganzen Zeithatte ich nichts anderes gewollt, als diesen Tag hier zu erleben. Vielleicht konnte ich es mir erst jetzt eingestehen, weil sie wieder da war. Sie war da. Es fühlte sich an, als würde ich mich aus einem Kokon befreien. Das Leben durchströmte mich wie ein Gebirgsbach. Kaltes Bier lief durch meine Kehle. Der Bussard tauchte ab und kam wenig später mit leeren Krallen wieder hoch. Es hätte schlimmer kommen können.
Wir überstimmten Mor und aßen im Garten unter dem Sonnenschirm. Mor grummelte wegen der Viecher, aber das legte sich, denn das Abendessen eroberte einen Platz in der Hall of Fame. Lachs, Kroketten, Remouladensoße und Crème fraîche, gefolgt von Birne auf Eis. Wir zelebrierten jeden Bissen, bis wir schließlich stöhnend gegen die Rückenlehnen der Gartenmöbel sanken und schnauften. Mor winkte unser Lob lächelnd ab und zündete sich eine ihrer seltenen Zigarren an, um die Insekten zu verjagen. Ich trug ab. Nele verschwand die Treppe hinauf und kam gleich darauf mit meiner Gitarre wieder. Sie blieb vor mir stehen und hielt sie hoch.
»Was ist das denn?« Sie pustete. Eine Staubwolke löste sich vom Korpus und schwebte durch die Luft. »Spielst du nicht mehr?«
»Seit neun Jahren nicht mehr«, sagte ich und sah ihr direkt in die Augen.
»Na, dann wird’s Zeit.«
Sie drückte mir die Gitarre in die Hand und setzte sich auf ihren Stuhl. Ich senkte den Blick und ließ meine Hände über den Korpus gleiten, wischte den gröbsten Schmutz ab und griff ein paar Akkorde, ohne die Saiten anzuschlagen. Es war ein abgenudeltes Ding. Ich hatte es wirklich seit Jahren nicht mehr
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