Nele und die geheimnisvolle Schatztruhe: Band 10 (German Edition)
plötzlich furchtbar leid. Und deshalb nahm sie seine Hand und sagte: »Das ist gemein, Papa. Der Vater von Henry ist total streng, der verpasst ihm bestimmt hundert Jahre Hausarrest. Eigentlich war die Sache ganz alleine meine Idee. Henry wollte gar nicht mit in das Verlies, er hat doll Angst vor Spinnen. Aber dann habe ich ihn doch dazu überredet.«
Herr Winter starrte seine Tochter verblüfft an und verstummte. Nele hatte ihn mit ihrer Verteidigungsrede ganz aus dem Konzept gebracht. Normalerweise stritt sie immer alles ab, wenn sie Unsinn gemacht hatte.
Nele witterte ihre Chance und setzte noch eins drauf: »Henry ist eben ein Gentleman – oder wie heißt das Wort, das Großtante Adelheid immer über Onkel Edward sagt? Also einer, der immer nett zu Frauen ist.«
Jetzt guckte auch Henry Nele an, als ob sie nicht alle Tassen im Schrank hätte.
»Also Papi. Welche Strafe kriege ich? Hof fegen oder deine Werkstatt aufräumen? Ich poliere sogar die Schraubenzieher. Und im Verlies müsste auch mal gesaugt werden. Da ist es furchtbar schmutzig.« Nele setzte ihr strahlendstes Lächeln auf.
Herr Winter runzelte die Stirn. »Werd nicht schon wieder unverschämt«, knurrte er. Aber so wütend wie eben war er nicht mehr. Er kratzte sich seufzend auf dem Kopf.
»Was ist denn hier für eine Unruhe mitten in der Nacht?«
Großtante Adelheid schlurfte im Nachthemd ins Kinderzimmer. Auf ihrer Schulter saß Plemplem. Im Gegensatz zu Adelheid, die sich verschlafen die Augen rieb, sah er höchst munter aus.
»Adelheid!«, rief Herr Winter erleichtert. Offensichtlich war er froh, dass er Verstärkung erhielt. »Stell dir vor, ich gehe harmlos in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen, da höre ich ein unheimliches Klopfen aus dem Verlies. Einen Moment später stelle ich fest, dass jemand das Schloss der Kellertür aufgebrochen hat. Und kurz darauf finde ich diese zwei Racker im Verlies. Ist das nicht total unerhört?«
Großtante Adelheid sah nicht wirklich verwundert aus. »Nun, bei diesen verrückten Hühnern wundert mich das nicht.«
Der Papagei gackerte los. »Verrückt! Verrückt! Verrückt!«, kreischte er. Er hob von Adelheids Schulter ab und landete nach einem eleganten Bogen mitten auf Henrys Kopf. Vorsichtig pickte er ihn mit seinem Schnabel und säuselte: »Sweet! Sweet! Sweet!«, bevor er es sich auf Henrys Schulter bequem machte.
Nele kicherte los. Sweet (sprich: s-w-i-i-t) war das erste englische Wort, das sie gelernt hatte, nachdem Henry auf Burg Kuckuckstein eingezogen war. Es hieß süß. Zuerst hatte es Josefine zu Henry gesagt, weil sie seine Klamotten so toll fand. Vor allem seine peinlichen Lackschuhe! Und dann hatte sich Plemplem unsterblich in Henry verliebt. Seitdem zwitscherte auch dieser bei jeder Gelegenheit Sweet! Sweet! Sweet! .
Plemplem liebte es, wenn man über seine Späße lachte. Und so streckte er huldvoll seinen Kopf in Neles Richtung und kreischte lässig: »Nele! Sweet! Henry! Sweet!«
Nele kriegte sich vor Kichern gar nicht mehr ein.
»Findet Papa gerade gar nicht, Süßer!«, sagte sie und warf Plemplem einen Luftkuss zu.
»Küsschen! Sweet! Henry! Sweet! Nele! Sweet!« Der Burgherr gurrte so begeistert wie eine verliebte Taube.
Normalerweise hasste es Nele, wenn jemand süß zu ihr sagte, aber heute war es zum ersten Mal lustig. Vor allem, weil ihr Papa so verdattert guckte.
»Schluss mit dem Unsinn!«, stoppte Herr Winter die ausgelassene Stimmung.
»Sweet???«, protestierte Plemplem und steckte seinen Schnabel beleidigt in die Luft, um richtig loszulegen.
»Pscht! Plemplem!«, sagte Nele und legte warnend ihren Finger auf ihren Mund.
»Das ist ja der reinste Affenstall hier«, schimpfte Herr Winter. Er machte ein Gesicht, als würde er eine neue Meckerrunde starten. »Jeder tanzt einem auf dem Kopf herum.«
Wie zum Beweis hob Plemplem von Henrys Schulter ab, suchte sich ein neues Plätzchen auf Herrn Winters Haarpracht und spottete: Swe-e-e-e-eee---t!«
Großtante Adelheid schüttelte den Kopf, pflückte den ungezogenen Papagei von Herrn Winters Kopf wie eine reife Frucht und sagte: »Jetzt erzählt uns doch erst mal, was ihr mitten in der Nacht im Verlies gesucht habt, Kinder!«
Nele wechselte einen schnellen Blick mit Henry. »Was wir gesucht haben«, stotterte sie. »Aaaalso, wir haben dort geheime … eine geheimnisvolle …«
»Spinne!«, unterbrach Henry sie. »Eine Spinne für den Sachkundeunterricht. Nele meinte, im Keller finden wir bestimmt eine ganz
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