Nelken fuers Knopfloch
Klinik entlassen, natürlich unter der Bedingung, daß sie daheim von geschultem Personal gepflegt würde. Sie zog mit zwei Schwestern und einer Masseuse auf Sachrang ein, das inzwischen ohne sie eingerichtet worden war. Noch war sie fast bewegungsunfähig, aber schließlich brachten Massagen, Bäder und die aufopfernde Pflege ihrer Betreuer zuwege, daß sich die atrophierten Muskeln kräftigten, daß sie stehen und sich endlich sogar an Stöcken vom Bett zum Fenster und von dort wieder zu ihrem Lager zurück zu bewegen lernte. Für Michael Pforten ein Anblick, der ihn erschütterte, zugleich aber auch mit heimlichem Entsetzen erfüllte. In dieser Nacht betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit.
Marcel Etienne verbrachte die ganze Zeit auf Sachrang. Er schrieb zu jener Zeit an einem Werk über jene Ausgrabungen in Yukatan, die er ein Jahr zuvor beendet hatte und die ein neues Licht auf die Ursachen warfen, die die Priesterschaft und die Bevölkerung jener Tempelanlagen und Städte zu dem rätselhaften Verlassen ihrer Wohnstätten sozusagen von einer Stunde auf die andere veranlaßt hatten.
Etienne war es, der Heliane unermüdlich zuredete und sie beschwor, in ihren Anstrengungen nicht nachzulassen, die erschlafften Muskeln und die sich dem Willen widersetzenden Gelenke zu bewegen und zu üben. Er flößte ihr Hoffnungen ein, an die er selber nicht recht glaubte, und er beteuerte, Fortschritte in ihrer Genesung zu entdecken, die er nicht sah, bis sie plötzlich selber spürte, daß winzige Besserungen einsetzten. Zuerst waren es zwei Schritte, die sie ohne Hilfe zurücklegen konnte, dann drei, dann ein paar, und schließlich schaffte sie den ganzen Weg bis zum Fenster und zurück ohne fremde Hilfe. Es war ein Tag, an dem die beiden Männer auf Sachrang das erste Fest feierten, das nicht in jener kummervollen Besäufnis endete, die sonst ihre stummen Zechgelage beschloß.
Nur etwas blieb als düsterer Schatten über dem Hause: Helianes künftige Kinderlosigkeit. Es war ein Gedanke, der Michael Pforten weniger tief berührte als Heliane selbst. Als einziges Kind aufgewachsen und andere Kinder beneidend, die aus großen Familien stammten, hatte sie immer von einem halben Dutzend kleiner Pfortens geträumt, die einmal auf Sachrang herumtoben sollten. Und wieder war es Marcel Etienne, der eines Tages, als Helianes Zustand sich schon so weit gebessert hatte, daß sie sich bereits im Hause bewegen und, wenn auch noch steif und unbeholfen, eine Treppe steigen konnte, Pforten den Vorschlag machte, Heliane zu einem Kind zu verhelfen. Pforten starrte Etienne zuerst an, als zweifle er an dessen Verstand. Vielleicht bewegten sich seine Gedanken auch im ersten Augenblick auf sonderbaren Bahnen, die Marcel leicht zurückprallen ließen, denn Pforten verblüffte ihn mit der Frage, welches Mädchen sich denn zu so etwas hergäbe. —
Etienne brauchte einen kräftigen Schluck aus seinem Glase und ein paar Züge aus der Zigarette, ehe er Pforten erklären konnte, daß er sich die Lösung des Problems ein wenig anders vorstelle. Er meinte nämlich, es müsse doch irgendwo ein Kind geben, das noch klein genug sei, um die Veränderung seiner Umgebung nicht zu spüren, aber schon groß genug, um der ersten mütterlichen Pflege und Nahrung nicht mehr zu bedürfen; ein Kind vielleicht, dessen Eltern gestorben seien, das man adoptieren könne und mit dem man Heliane jene Aufgabe gäbe, nach der sie sich innerlich sehne.
Pforten hielt diese Idee und ihren Urheber zunächst für total übergeschnappt, dann für reichlich komisch, später für überlegenswert, und schließlich war er davon so begeistert, daß er es Marcel fast übelnahm, nicht selber auf diesen großartigen Einfall gekommen zu sein. Er konnte es kaum erwarten, sämtliche Waisenhäuser und Wohlfahrtsorganisationen des Landes festzustellen und später gemeinsam mit Etienne abzuklappern, um den Wunschknaben aufzustöbern, von dem er sich schon ganz bestimmte Vorstellungen machte. Sie entsprachen übrigens haargenau dem Bild des kleinen Jackie Coogan in >Kid<, einem kräftigen, schwarzäugigen kleinen Schreihals, in einer Seifenkiste auf Holzwolle gebettet und von einer raffiniert aufgehängten Kaffeekanne aus dem Schnuller je nach Bedarf ernährt.
Die beiden Männer kurvten etwa vierzehn Tage lang im Lande umher, und dann war es plötzlich soweit, daß Pforten es wußte und aussprach: »Dieser oder keiner!«
Es war ein Junge mit blauen Augen und einer kecken Nase, zwei
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