Nelken fuers Knopfloch
verwegenen Haarwirbeln auf dem Kopf und stämmigen, runden Beinchen, fast auf den Tag ein Jahr alt und vierundzwanzig Pfund schwer. Er biß Pforten mit seinen ersten vier Zähnen kräftig in den Finger und krähte vor Vergnügen, als Marcel ihn am Bauch kitzelte. Schokolade kannte er noch nicht, aber er machte ein nachdenkliches Gesicht, als Pforten ihm ein Stückchen von einer Katzenzunge in den Mund steckte’, und hätte er bereits sprechen können, dann hätte er sicherlich gesagt, daß dieses süße braune Zeug einmal seine Leidenschaft werden könne. Die Eltern des Jungen, ein zweiunddreißigjähriger Ingenieur und seine sehr junge Frau, waren mit neun anderen Personen bei einem schrecklichen Busunglück in den Bergen in einen Abgrund gestürzt und ums Leben gekommen, zwei gesunde Menschen und beide ohne Anhang, da ihre Eltern schon verstorben waren. Pforten sah Etienne und Etienne sah Pforten an, und dann sagten beide wie aus einem Munde: »Weißt du was? Ich meine, diesen Jungen packen wir mal ein!«
Man legte Pforten keine Schwierigkeiten in den Weg, den Kleinen, der übrigens Manfred Lingenau hieß, sozusagen unter dem Vorbehalt des Umtausches mitzunehmen. Pfortens Name und das Unglück, das seine Frau betroffen hatte, waren ja bekannt genug. Natürlich war von Umtausch keine Rede! Heliane verliebte sich in den kleinen Kerl auf den ersten Blick, und er sich in sie genauso heftig. Ein paar Monate später erfolgte die Adoption des Kindes. Das fachärztliche Gutachten, daß Heliane eigene Kinder nie werde gebären können, erleichterte die Formalitäten.
Es war der gescheiteste Einfall — jedenfalls behauptete das Pforten später immer wieder — , den Etienne jemals in seinem Leben gehabt hatte. Und es war fast unglaublich, welche Wirkung das Kind auf Heliane ausübte. Als seien die Quellen ihres Willens, wieder gesund und wieder ein heiterer Mensch zu werden, verschüttet gewesen und nun von den kleinen dicken Händen des Jungen plötzlich aufgebuddelt worden, so rasch ging ihre völlige Genesung vor sich. Ein Wunder für die Ärzte, ein Wunder für Pforten und Etienne, und das größte Wunder für Heliane selbst.
Ein Jahr nach der Adoption bewegte sie sich wie früher, schwamm dreißig Runden im Swimming-pool, begann wieder Gymnastik und leichten Sport zu betreiben und wurde nur gelegentlich, nach allzu langen Übungen am Flügel oder nach großen Anstrengungen, daran erinnert, daß sie einmal aufgegeben worden war und daß sie sich selbst aufgegeben hatte. Und vier Jahre später brachte sie, wenn auch unter schwierigen Umständen, die es nicht ratsam erscheinen ließen, weitere Kinder folgen zu lassen, ihren eigenen Sohn Thomas zur Welt.
4
»Hallo, Marcel! Alter Faulpelz!«
Er spürte, daß er an den Schultern gerüttelt wurde, fuhr empor und starrte blinzelnd in das überhelle Mittagslicht.
»Bist du wahrhaftig eingeschlafen? Ich bin doch kaum zehn Minuten lang im Hause gewesen...«
Er reckte die Arme und erhob sich. Die Blutzirkulation in den Beinen war eingeschlafen, in die Sohle des rechten Fußes stachen tausend kleine Nadeln, und er machte ein paar steife Schritte, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen.
»Tatsächlich, Heli, ich habe ein wenig geträumt. Einen lebhaften Traum. Alles war wieder so gegenwärtig. Jener schreckliche Tag deines Unfalls — und die blitzenden kleinen Zähne, mit denen Manfred Michael in den Finger biß...«
Heliane hängte sich in seinen Arm und schmiegte sich weich und fast zärtlich an seine Hüfte.
»Ach, Marcel, ich möchte gar nicht daran denken, was wir damals ohne dich gewesen wären!«
Wer sie miteinander ins Haus gehen sah, hätte sie für ein frischgebackenes Liebespaar halten können.
Das weiße Haus mit dem schieferblauen Walmdach gliederte sich in drei Teile, den Mitteltrakt mit der großen Fensterfront nach Süden, und zwei Flügel, die sich rechtwinklig anschlossen und die Schlaf-, Wohn- und Gastzimmer enthielten. Die große Halle diente der Repräsentation; für zwei Menschen war der riesige Raum mit der schöngeschwungenen Doppeltreppe — obwohl durch ein kunstvolles Gitterwerk in eine Bar, eine Ecke mit offenem Kamin und einen Wohnteil gegliedert, in dem der Fernsehapparat stand — viel zu groß. Man verlor sich darin, und auch Heliane war es nicht ganz gelungen, dem Raum durch Brücken, Teppiche, Bilder und Blumenarrangements jene offizielle Note zu nehmen, die stets den Geschmack des Architekten spürbar werden ließ, der das Haus
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