Nelken fuers Knopfloch
und eines Tages wieder frei würde gehen können. Nach kurzer Zeit adoptierten wir dich, und in allen Jahren, die darauf folgten, ist mir nie der Gedanke gekommen, daß du nicht mein eigenes Kind bist. Was mich daran gelegentlich erinnerte, war diese Schachtel, die ich dir zu einem späteren Zeitpunkt übergeben wollte.
Jetzt ist es soweit. Ich lasse dich nun hier mit ihr allein. Schau dir die Papiere und Dokumente an. Du findest darin alles, was du über deine wirkliche Herkunft wissen mußt. Die Geschichte des Unglücks in den Bergen, bei dem deine Eltern ums Leben kamen, einige Daten über deine Familie, soweit es uns gelang, darüber Auskünfte einzuholen, und ein paar Fotos...«
Helianes Stimme schwankte ein wenig, als sie ihren Bericht beendete und zwei Atelieraufnahmen aus der Schatulle herauszog, ein steifes Hochzeitsbild, auf dem zwei junge Menschen von einem Provinzfotografen vor die Kamera gestellt den Betrachter mit starren >Bitte-lächeln!<-Gesichtern ansahen, und eine andere, nicht weniger gestellte Aufnahme, auf der eine mädchenhaft junge Frau einen Säugling nach der Taufe im Parade-Steckkissen präsentierte, während sich der Vater, neben dem Sessel stehend, zu Frau und Kind herabbeugte.
Manfred warf einen zögernden Blick auf die Bilder. Auf seiner Nase standen kleine Schweißperlen, er sah unglücklich aus und befeuchtete sich nervös die spröden, trockenen Lippen. Er nahm das Hochzeitsbild in die Hand, und Heliane bemerkte, daß seine Finger zitterten, während er mit brennenden Augen auf das Foto starrte.
»Es ist, als ob ich in einem fremden Album die Bilder von fremden Menschen betrachte«, murmelte er fast tonlos. »Du sagst mir, daß es meine Eltern sind... Aber es sind nur Worte. Mein Vater...Meine Mutter... Mein Gott, Mutti, bitte, halte mich nicht für roh und gefühllos, aber ich empfinde beim Anblick dieser Bilder nichts! Keine Regung!«
Und plötzlich, von einem Gefühlssturm überwältigt, glitt er auf die Knie und preßte sein Gesicht wie früher, wenn er als kleiner Junge mit irgendeinem großen Kummer zu Heliane gelaufen war, in ihren Schoß und ließ seine Tränen strömen.
»Nein!« stieß er schluchzend hervor. »Das sind nicht meine Eltern! Das sind fremde Gesichter, die ich nicht sehen will! Das sind fremde Menschen, mit denen mich nichts verbindet! Bitte, Mutti, verwahr diese Bilder und alle diese Zeitungen, die mich nur wirr machen. Ich gehöre doch zu euch! Und ich will zu euch gehören. Du bist meine Mutter, und Michael Pforten ist mein Vater, und Tom mein Bruder, und ich gehöre zu euch! Und zu Onkel Marcel und zu Babette und zu Sachrang und zu allem, wo ich aufgewachsen bin...« Seine Stimme verlor sich in einem erstickten Gestammel, und Heliane ließ den Sturm abebben, ehe sie Manfred in ihre Arme zog und an ihr Herz preßte.
»Beruhige dich, mein lieber, lieber Junge«, sagte sie zärtlich. »Wenn du es eines Tages nicht selber anders wünschen wirst, dann werde ich alle diese Dinge an mich nehmen und für immer einschließen. Du bist mein Sohn, und du wirst es bleiben. Du gehörst zu uns, genauso, wie Tom zu uns gehört. Es gibt in meinem Herzen keinen Unterschied zwischen euch beiden!«
Er nickte stumm und leckte sich die salzigen Tränen von den Lippen. Er sah so unglücklich und verwirrt aus, daß sie ihn am liebsten in ihren Armen gewiegt hätte wie damals, als er als hilfloses Kleinkind bei ihr Wärme und Liebe gesucht hatte.
»Du mußt es nur noch Tom beibringen«, stammelte er, »damit er es womöglich nicht so erfährt, wie ich es erfahren habe...«
»Ja, Fredi, ich werde es Tom noch heute erzählen.«
Sie fand ihren Sohn Thomas, nachdem sie sich die Augen gekühlt und die Nase gepudert hatte, in der Garage, wo sich auch Etienne aufhielt, um gemeinsam mit Tom den Motor aufs Fahrgestell zu montieren. Trotz Wasser und Puder blieb Etienne nicht verborgen, daß Heliane von einer Unterredung kam, die sie tief aufgewühlt hatte, aber der gelöste Ausdruck, mit dem sie ihm lächelnd zunickte, gab ihm die Gewißheit, daß zwischen ihr und Manfred alles in Ordnung war.
»Möchtest du einmal für eine Minute den Schraubenschlüssel aus der Hand legen, Tom!« sagte sie kopfschüttelnd, denn der Junge war mit solch glühendem Eifer bei der Arbeit, daß er ihren Eintritt nicht einmal bemerkt hatte.
»Muß es gerade jetzt sein, Mutti!« knurrte er.
»Nun mach schon mal Pause, Meister«, sagte Marcel und nahm Tom das Werkzeug aus der Hand, »und außerdem
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