Nelson, das Weihnachtskaetzchen
war es kein Problem, Nelson in dem Katzenkörbchen zu transportieren. Er war die Prozedur offenbar gewohnt, denn er ließ alles widerstandslos über sich ergehen. In der U-Bahn saß er im Körbchen auf Arthurs Schoß, hellwach und aufmerksam zwar, aber er bewegte sich nicht und wartete duldsam ab.
Zu Hause angekommen schloss Arthur die Wohnungstür hinter sich ab und trat in den kühlen dunklen Flur. Er setzte den Korb auf den Boden und öffnete das Türchen. Erst dann schaltete er das Licht ein. Nelson machte ein paar vorsichtige Schritte, blieb dann stehen, sah unsicher zu Arthur auf und miaute.
»Geh ruhig. Los.« Er lachte. »Das ist mein Zuhause.«
Arthur ging voran, wie um Nelson zu zeigen, dass hier alles harmlos und ungefährlich war. Er betrat die Küche und stellte die Heizung an. Nelson folgte ihm zögerlich und inspizierte den Raum. Schließlich sprang er auf einen Stuhl und ließ sich auf dem weichen Polster nieder.
Arthur beobachtete ihn dabei und lächelte.
»Das ist der Stuhl meiner Frau«, sagte er.
Nelson stand auf und drehte sich einmal um die eigene Achse.
»Nein, bleib ruhig sitzen. Es ist gut. Sie ist tot, weißt du? Sie ist vor drei Jahren gestorben.«
Nelson sah ihn mit großen Augen an. Natürlich verstand er nicht, was Arthur sagte, aber er schien zu merken, dass Arthur über etwas Wichtiges sprach.
»Sie hatte Krebs. Ja, so war das.«
Arthur lächelte traurig und setzte sich im Mantel zu ihm.
»Sie war sehr lange krank, weißt du? Die Leute haben gesagt, es wäre am Ende eine Erlösung für sie gewesen. Und sie sagten, wenn jemand so lange krank ist, hat man genügend Zeit, sich auf seinen Tod vorzubereiten. Er kommt dann nicht so plötzlich. Aber so war das bei uns nicht. Ich war bis zum Schluss felsenfest überzeugt, sie würde überleben. Den Krebs besiegen. Trotz aller düsteren Prognosen. Ich habe fest an ihre Heilung geglaubt. Man liest doch ständig davon: Da gibt es Patienten, wo die Ärzte alle Hoffnung aufgegeben haben, und plötzlich sind die wieder kerngesund. Und ich habe gedacht, so würde es auch Sophie ergehen. Mit ihrem Tod habe ich überhaupt nicht gerechnet. Es war für mich genauso ein Schlag, als wäre sie ohne Vorwarnung bei einem Autounfall gestorben. Gestern lebte sie noch, und dann war sie fort. Unwiderruflich.«
Nelson hörte stillschweigend zu. Der kleine Kater wirkte plötzlich ganz unglücklich.
»Aber weißt du, Nelson«, sagte Arthur, «irgendwann werde ich ihr folgen. Dann werden Sophie und ich wieder vereint sein. Davon bin ich überzeugt.«
Er streichelte ihn, und Nelson schmiegte den Kopf in seine Handfläche. Arthur deutete auf ein Foto über dem Gewürzregal.
»Siehst du, das da ist Sophie.«
Er stand auf und holte das Bild. Es zeigte die ganze Familie. Ein Foto aus besseren Tagen, da waren sie noch gemeinsam glücklich gewesen. Er deutete auf seine Frau.
»Das da ist sie. So sah sie aus. Eine Schönheit, nicht wahr? Ich war ein wirklicher Glückspilz.«
Er betrachtete das Foto. Schließlich strich er mit dem Finger über das Gesicht seiner Tochter.
»Und das ist Anna, meine Tochter«, sagte er.
Die Worte gingen ihm nur schwer über die Lippen. Er wollte nicht an die vielen schmerzhaften Dinge denken. Der schreckliche Streit. Die Vorwürfe. All die hässlichen Dinge, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen hatten.
»Sie … sie ist …« Er stockte.
Nicht einmal einer Katze konnte er die Wahrheit sagen. Das war doch lächerlich. Er nahm sich zusammen.
»Wir hatten einen Streit, und ich habe ihr gesagt, dass sie nicht mehr meine Tochter ist. Ich wollte, dass sie aus meinem Leben verschwindet, und das ist sie auch. Und heute bereue ich das. Sie fehlt mir so schrecklich.«
Da war es raus. Arthur atmete ein paar Mal durch. Es war doch gar nicht so schwer gewesen.
Er stand auf und zog seinen Mantel aus.
»So, und jetzt wird gegessen. Ich weiß nicht, wie es dir geht. Aber ich habe schrecklichen Hunger.«
Nelson war ebenfalls aufgesprungen und lief um seine Beine herum.
»Erst essen wir was«, sagte Arthur. »Und dann zeige ich dir, wo du schlafen kannst.«
Das war es. Über seine Tochter wollte er nun nicht mehr sprechen. Er hatte alles gesagt, was wichtig war. Und jetzt sollten all die trüben Gedanken für heute aus seinem Kopf verschwinden.
15
Die Begegnung mit ihrem Vater ging Anna nicht aus dem Kopf. Sie saß den ganzen Morgen in ihrem Büro, einer winzigen Schuhschachtel im Dachgeschoss der Unternehmensberatung, für
Weitere Kostenlose Bücher