Nelson, das Weihnachtskaetzchen
hätten sie sich schon zu sagen? Da war einfach zu viel passiert. Nein, sie würde hinter den Lebkuchenherzen bleiben. Dieses Risiko war ihr zu groß.
Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. Er strahlte regelrecht. Was passierte denn jetzt? So einen Ausdruck hatte Anna ewig nicht bei ihm gesehen. Eine ältere Dame in langen Wollkleidern trat an seinen Stand. Sie lehnte sich ganz selbstverständlich an den Rand der Verkaufsfläche. Ihr Vater begann zu plaudern, und kurz darauf stieß die Frau ein glockenhelles Lachen aus. Sie wirkten so vertraut miteinander, wie sie es nur von ihm und ihrer Mutter kannte.
Anna spürte, wie eine eisige Hand nach ihrem Herzen griff. Vater hatte also längst eine neue Frau gefunden. Und sie wusste nicht einmal davon. Er hatte sein altes Leben vollends hinter sich gelassen. Und Anna war endgültig gestorben für ihn.
Sie fühlte sich elend. Weshalb war sie auch hierher gekommen? War es denn nötig, an alten Wunden zu rühren? Sie hatte auch so genügend Probleme mit ihrer Familie. Da konnte sie dies hier wirklich nicht gebrauchen.
Anna wandte sich ab und huschte im Schatten der Gasse davon. Sie wollte nach Hause gehen und den Kindern das Mittagessen kochen. Das war ohnehin längst überfällig. Und dies alles hier würde sie hinter sich lassen. Ein für allemal.
Ein paar Stunden später begriff sie, dass sie sich gar nicht die Mühe hätte machen müssen, ein Mittagessen für die Kinder auf den Tisch zu bringen. Laura sagte wieder einmal kurzfristig ab, sie wollte sich mit einer Freundin zum Französischlernen treffen. Und Max weigerte sich, das vegetarische Gericht auch nur anzurühren. Er nannte es einen Fraß, was Anna verletzt hatte.
»Gesünder kann man sich kaum ernähren«, hatte sie geklagt. »Der Fenchel ist ganz frisch, und der Wirsing ist von einem Biobauern aus Brandenburg. Das Essen ist einfach köstlich.«
Aber Max hatte das nicht beeindruckt. Er hatte wohl gehofft, Anna würde wieder eine Ausnahme machen und ihm Würstchen braten.
»Fleisch essen ist barbarisch«, sagte sie eindringlich. »Außerdem schmeckt es doch gar nicht. Probier doch wenigstens den Fenchel, der ist so zart, der zergeht einem im Mund.«
Doch Max rümpfte nur die Nase. Er verzog sich in sein Zimmer, wo er noch Gummibärchen und Cola gehortet hatte. Kurz darauf hörte Anna wieder das elektronische Gedudel seiner Computerspiele. Für den Rest des Tages würde sie ihn wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Sie machte sich daran, die Reste des Mittagessens einzufrieren. Ihr Blick fiel dabei durch das Küchenfenster auf die Straße. Draußen herrschte Nebel, und sie konnte kaum bis zum Haus der Grünbergs sehen. Marie war seit Tagen nicht mehr bei ihr aufgetaucht. Sonst kam sie beinahe täglich herüber, um sich zu Anna in die Küche zu setzen. Länger als zwei Tage war sie bislang nie abgetaucht, das war neu.
Bestimmt war sie unglücklich wegen Nelson. Anna konnte das verstehen. Nachdem sie die Essensreste in der Gefriertruhe verstaut hatte, blickte sie wieder zum Haus hinüber. Das Mädchen fehlte ihr. In diesem Moment fuhr der Kombi der Grünbergs auf die Auffahrt, und Dorothee stieg aus und machte sich daran, Einkäufe ins Haus zu tragen.
Anna beschloss, kurz hinüberzugehen und nach dem Mädchen zu fragen. Sie nahm den Mantel und verließ das Haus. Aus Max’ Zimmer drang das Gedudel vom Computer, er würde ihre Abwesenheit wohl nicht einmal bemerken.
Draußen war es eiskalt. Dorothee war inzwischen verschwunden, der Kombi stand verschlossen vor dem Haus. Also ging Anna zur Tür und läutete. Bernd öffnete die Tür.
»Anna! Was für eine Überraschung.«
»Hallo Bernd. Ich habe gerade Dorothee gesehen, und da dachte ich, ich gehe mal kurz rüber und frage, wie es Marie geht.«
Sein Gesicht verdunkelte sich ein wenig. »Sie ist ziemlich geknickt, immer noch. Aber das ist wohl kein Wunder.«
»Dann gibt es von Nelson nichts Neues?«, fragte Anna.
Bernd schüttelte den Kopf. Dorothee tauchte in der Küchentür auf, sie wollte offenbar nachsehen kommen, wer da geklingelt hatte.
»Hallo, Anna«, sagte sie und trat näher.
»Ich rechne kaum noch damit, dass Nelson wieder auftaucht«, meinte Bernd. »Dafür ist er jetzt schon zu lange weg. Mitten in der Stadt hätte ihn doch jemand sehen müssen.«
Dorothee begriff, worüber geredet wurde, und machte ein betretenes Gesicht. »Marie isst kaum noch etwas«, sagte sie. »Und den halben Tag sitzt sie oben in ihrem Zimmer und will keinen
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