Nelson, das Weihnachtskaetzchen
die sie arbeitete, und blickte tatenlos über den Monitor ihres Computers hinweg in den grauen Himmel. Zum Glück ließ man sie hier oben ungestört. Keinem der Kollegen fiel auf, dass sie heute noch gar nicht richtig mit der Arbeit angefangen hatte, obwohl gleich Mittag war. Aber sie hatte keinen Kopf für ihren Job. Sie saß die ganze Zeit einfach da und träumte mit offenen Augen.
Von hier oben hatte man einen schönen Blick auf die Steglitzer Haupteinkaufsstraße. Überall leuchteten Tannenbäume, Lichterketten ragten quer über die Straße, und die Schaufenster waren voller Weihnachtsschmuck. Menschen drängten sich dort unten auf den Bürgersteigen. Die Vorbereitungen für Weihnachten waren bereits in vollem Gange.
Das Fest der Liebe, dachte Anna. Bei ihr zu Hause sah es im Moment gar nicht danach aus. Sie hatte ihrem Mann noch immer nicht von ihrem Vater erzählt, obwohl sie sich das fest vorgenommen hatte. Dafür war einfach keine Zeit gewesen. Stattdessen war heute beim Frühstück wieder ein Streit mit Laura ausgebrochen. Sie und ihre Tochter schafften es momentan nicht einmal, sich Guten Morgen zu wünschen, ohne dabei in Streit zu geraten. Klaus hatte sich daraufhin verdrückt. Er sagte, er habe keinen Hunger und wolle gleich ins Büro fahren. Doch Anna hatte seinem Gesicht angesehen, dass er einfach schnellstmöglich verschwinden wollte. Frühstück gab es schließlich auch in der Stadt. Sie konnte es ihm nicht einmal verübeln.
Was sollte erst werden, wenn sie an den Feiertagen aufeinanderhockten? Wie sollte sich da Streit vermeiden lassen? Anna hatte kein gutes Gefühl. Sie fürchtete eine Katastrophe.
Sie dachte an vergangene Weihnachtsfeste, die voller Romantik und Schönheit und Musik gewesen waren. Sie erinnerte sich an glückliche Kinder, an Festlichkeit und Geschenke. Alles war so reich und so besinnlich gewesen. Wie hatte sich ihr Leben nur in diese Richtung entwickeln können?
Sie fuhr den Computer herunter. Es hatte keinen Sinn mehr weiterzumachen. Sie würde ein paar Minuten eher aufhören. Ihr Chef würde schon nichts dagegen haben. Mit der Tasche unterm Arm machte sie sich auf den Weg zum Auto. Sie wollte noch rasch fürs Mittagessen einkaufen und dann nach Hause fahren.
Die Straßen waren vollgestopft, und es ging nur im Schritttempo voran. An einer großen Kreuzung musste sie vor einer roten Ampel warten. Über ihr riesengroße leuchtende Verkehrsschilder. Rechts ging es zur Autobahn und nach Hause zum Wannsee. Links wiesen die Schilder in Richtung Mitte und Tiergarten. Sie zögerte. Die Ampel sprang auf Grün. Kurz entschlossen wechselte sie die Spur und ordnete sich bei den Linksabbiegern ein.
Es war eine spontane Idee. Sie würde noch mal den Weihnachtsmarkt besuchen. Es ging ihr nicht darum, mit ihrem Vater zu sprechen. Ganz im Gegenteil. Aber sie wollte ihn noch einmal sehen. Beim letzten Mal war sie so erschrocken gewesen, da hatte sie keine Augen für irgendwelche Details gehabt. Dabei fragte sie sich, wie es ihm wohl ging. War er gesund? Hatte er genug Geld? Kam er zurecht? Und überhaupt: Was für Gefühle würde sie bei sich selbst beobachten, wenn sie ihren Vater betrachtete?
Sie fuhr zum Alexanderplatz und stellte das Auto in einem Parkhaus ab. Dann überquerte sie zu Fuß die Straße und betrat den Weihnachtsmarkt. In den Mittagsstunden war nicht viel Betriebsamkeit in den Gassen. Der Markt war gerade erst geöffnet worden, wahrscheinlich würde es noch eine Weile dauern, bis es so belebt wäre wie bei ihrem letzten Besuch. Sie musste also aufpassen, wenn sie unentdeckt bleiben wollte.
Die Menschen in den Ständen waren allesamt dick eingepackt. Im Maronenstand wärmte sich eine Frau ihre Hände am Grillrost. Es war ja auch schrecklich kalt. Wie mochte es sich anfühlen, den ganzen Tag hier zu stehen? War ihr Vater nicht viel zu alt für so etwas?
Vor sich entdeckte sie die Eislaufbahn und die Gasse mit der Bühne für die Märchenerzählerin. Und da rückte auch der Stand mit den Krippenfiguren in ihr Blickfeld. Anna hielt sich hinter einer Reihe Lebkuchenherzen verborgen, die von einer Markise herabhingen. Vorsichtig spähte sie hinüber. Tatsächlich: Hinter der Verkaufsfläche saß ihr Vater. Er trug dicke Wollpullover, eine alte Daunenweste und seine fellbesetzte Schirmmütze. Sein Gesicht war ihr so vertraut. Er hatte sich kaum verändert. Sie verspürte Sehnsucht nach ihm und wäre am liebsten zu ihm hinübergelaufen, doch das hatte ja keinen Sinn. Was
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