Nelson, das Weihnachtskaetzchen
dicht aneinandergedrängten Hütten war der Turm des Roten Rathauses zu sehen, der sich stolz in den Nachthimmel erhob.
Arthur überquerte den Weg und stapfte um den Glühweinstand herum. Das Zelt rückte in sein Blickfeld. Es war mit dünnen Holzwänden und bodenlangen Sprossenfenstern verkleidet. Warmes Licht drang aus dem Innern. Die anderen Schausteller standen dicht gedrängt zwischen glühenden Heizpilzen, schunkelten zu der Musik und prosteten sich mit Grogtassen zu. Ohne Mäntel und Mützen und dicke Pullover wirkten sie völlig verändert. Arthur erkannte sie kaum wieder.
Er zögerte. Ob er es sich erlauben durfte, dort mitzufeiern? Er gehörte nicht dorthin, und er hatte nichts getan, um sich die Gastfreundschaft dieser Menschen zu verdienen.
In einer Gruppe am Fenster entdeckte er Liselotte, die gerade angeregt mit der Maronenverkäuferin plauderte. Auch sie wirkte ohne ihren dicken Wollmantel verändert. Eine schlanke und zierliche Person mit betont aufrechter Haltung. Wie hübsch sie war, dachte Arthur.
Der dicke Mann vom Grünkohlstand gesellte sich zu ihr. Arthur war überrascht, wie ungezwungen Liselotte mit ihm plauderte. Wie selbstverständlich sie mit ihm und den anderen umging. Er fühlte sich nun vollends fehl am Platz. Wie konnte er da mithalten?
Doch gerade, als er in Begriff war, sich abzuwenden, entdeckte ihn Liselotte. Sie strahlte drauflos und winkte ihn gestenreich herein. Jetzt war es zu spät, um zu gehen. Er würde sich nur unmöglich machen. Also zog er die Tür auf und trat ein.
Ein Schwall warmer, süßlich duftender Luft schlug ihm entgegen. Die Schausteller hatten den Raum ordentlich aufgeheizt, aber wer wollte es ihnen verübeln, wo sie doch den ganzen Tag froren. Flotte, jazzige Weihnachtsmusik dröhnte aus den Boxen. Irgendein amerikanisches Weihnachtslied. Als der Refrain einsetzte, flogen Arme in die Luft, und es wurde lauthals mitgesungen: »Rockin’ Around The Christmas Tree.«
Liselotte zog ihn heran und umarmte ihn.
»Andere Musik gab es nicht?«, begrüßte er sie.
Sie lachte. »Diese Frage stellen sich alle hier.«
Schließlich plätscherte schon den ganzen Tag über Weihnachtsmusik aus den Boxen. Ein bisschen Abwechslung wäre nicht schlecht gewesen.
»Es hat wohl keiner daran gedacht, andere Musik zu organisieren«, fuhr sie fort. »Deshalb haben sie jetzt einfach die CD vom Eislaufstand geholt. Da sind wenigstens auch schnellere Lieder drauf, zu denen man tanzen kann.«
Er schüttelte belustigt den Kopf. Doch die Stimmung war gut. In der Mitte des Zelts hatte sich eine Tanzfläche gebildet, und eine Reihe von Marktfrauen tanzte Discofox.
»Schön, dass du kommen konntest«, sagte Liselotte.
»Ich hätte ja niemals gedacht …«, begann er und geriet sofort ins Stocken. »Ich meine …«
Ich hätte ja niemals gedacht, zu so etwas überhaupt eingeladen zu werden, hatte er sagen wollen. Doch das wollte er lieber für sich behalten. Es war ein Familienfest, das merkte er sofort. Nur gehörte er dieser Familie nicht an.
»Findet so eine Feier jedes Jahr statt?«, fragte er stattdessen.
»Soweit ich weiß, ja. Zum einen das Bergfest, und dann gibt es noch mal eine Abschlussfeier, ganz am Ende. Ist doch sehr nett, findest du nicht?«
Arthur sah sich um. »Ja, schon.«
Da hörte die Musik plötzlich auf, und ein Fiepen dröhnte in der Box. Als nächstes tauchte Murat auf. Er stellte sich mit einem Mikrofon auf den Tisch.
»Stimmung!«, rief er und erntete lauten Jubel.
Dann hob er die Hand, und es wurde langsam ruhiger.
»So, Leute: Wer keinen Glühwein mehr hat, sollte sich schnell welchen besorgen. Denn jetzt folgt etwas ganz Besonderes. Ein Song für Verliebte.«
Ein Raunen ging durch den Saal. Es wurde gekichert. Arthur betrachtete all das amüsiert. Es war hier beinahe wie auf einem Schulabschlussball.
»Ich habe ihn selbst ausgesucht«, fuhr Murat fort, »und gleich wird Amor seine Pfeile verschießen. Jetzt singt Barbra Streisand für uns. ›I’ll Be Home For Christmas‹.«
Applaus folgte, doch Murat war noch nicht fertig.
»Alle Liebespaare müssen jetzt tanzen.« Er deutete mit dem Finger quer durch den Saal. »Das gilt auch für dich, Arthur Abraham. Ab auf die Tanzfläche!«
»Ach, was für ein Unsinn!«, brummte Arthur.
Doch Murat grinste breit und rief ins Mikrofon: »Wer ist dafür, dass Arthur tanzt?«
Tobender Jubel. Arthur wurde von allen Seiten angefeuert. Liselotte lachte. Er schüttelte den Kopf, doch ihm blieb nichts
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