Nelson, das Weihnachtskaetzchen
da war es ihr eben herausgerutscht.
Anna fühlte sich scheußlich. Das Mädchen fehlte ihr regelrecht. Sie war doch immer Annas kleiner Sonnenschein gewesen. Sie hatte Anna aufgeheitert, wenn sie mit ihren eigenen Kindern Schwierigkeiten hatte. Doch jetzt saß Marie allein in ihrem Zimmer und weinte und wollte Anna nicht mehr sehen.
Von nebenan drangen Stimmen aus dem Fernseher. Klaus hatte die Tagesschau eingeschaltet. Er war sehr schweigsam gewesen in den letzten Tagen. Anna kannte das schon. Es war seine Art zu sagen, dass ihm etwas nicht passte. Er zog sich zurück. Irgendwann, wenn er den richtigen Zeitpunkt gefunden hatte, würde er eine Diskussion beginnen. Dann käme alles auf den Tisch, was ihn störte. Doch noch war es nicht so weit.
Wieder blickte sie zum Haus der Grünbergs hinüber. Natürlich konnte sie alles, was geschehen war, rational erklären. Trotzdem gab es dieses kleine Kind in ihr, das fragte: Bin ich denn so wenig liebenswert? Gibt es keinen, der mich mag?
Sie schüttelte den Kopf. Solche Gedanken wollte sie lieber sofort vertreiben. Energisch wischte sie den Herd ab. Putzen und Saubermachen – so erhielt sie die Normalität aufrecht.
Als Nächstes schlich sich ihr Vater in ihre Gedanken. Sie war beinahe wütend auf ihn. Ausgerechnet jetzt tauchte er in ihrem Leben auf, jetzt, wo ihre eigene Familie ein Scherbenhaufen war. Er hätte sich keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können. Es kam ihr beinahe selbstsüchtig von ihm vor, aber das war natürlich Unsinn. Er wusste ja nichts von ihren Problemen. Er wollte sich nur aussöhnen.
Aussöhnung. Als wenn das so einfach wäre.
Lauras Stimme war nebenan zu hören. Sie übertönte die Geräusche aus dem Fernseher. Anna trat an die Tür und lauschte.
»Och, Papa, bitte …«, hörte sie ihre Tochter sagen.
»Nein, Laura. Das kann ich dir nicht erlauben. Das musst du mit Mama besprechen.«
»Aber du weißt doch, wie sie ist. Das erlaubt die nie.«
»Trotzdem. Außerdem gefällt auch mir das nicht. Ich fände es viel, viel besser, wenn du hierbleibst.«
»Och, Menno!«, quengelte Laura. »Bitte, Papa.«
Anna öffnete die Tür und trat ins Wohnzimmer. Laura blickte erschrocken auf. Als hätte Anna kein Gespräch belauscht, sondern sie beim Klauen erwischt. Sie spürte, wie der Ärger in ihr aufstieg.
»Was ist denn so schrecklich, dass man nicht mit mir darüber reden kann?«
»Hast du etwa an der Tür gelauscht?«
»Gar nichts habe ich gemacht. Ich wollte nur ins Wohnzimmer kommen, um mir die Nachrichten anzusehen. Also: Worum geht es?«
Doch Laura hielt offenbar nicht viel davon, mit ihrer Mutter darüber zu reden. Stattdessen schnaubte sie verächtlich und verschränkte die Arme.
»Laura«, ermahnte ihr Vater sie. »Erzähl Mama, worum es geht.«
Laura sackte zusammen, ließ ihre Arme hängen und wechselte die Strategie. »Bitte, Mama. Louisa macht eine Party, und da möchte ich unbedingt hin. Ann-Sophie und die anderen sind auch da. Och, bitte, bitte.«
»Wo ist das Problem? Wann soll diese Party denn stattfinden?«
Laura schwieg. Klaus machte Anstalten, an ihrer Stelle zu antworten, doch dann kam sie ihm zuvor.
»An Heiligabend.« Blitzschnell fügte sie hinzu: »Aber erst später, wenn die Bescherung und das Essen vorbei sind. Um acht oder neun würde Louisas Papa mich abholen, dann ist ja eh schon alles vorbei. Wir fangen mit der Party erst an, wenn die Feier in unseren Familien vorbei ist, vorher nicht. Und Louisas Mama meint, wir müssen spätestens um halb eins ins Bett, du brauchst also keine Angst haben, dass wir zu lange feiern. Es soll eine amerikanische Weihnachtsparty werden, nur wir Mädchen. Alle anderen kommen, keine muss zu Hause bleiben. Das wird sooo toll. Och, bitte, Mama, das kannst du nicht verbieten.«
Anna starrte ihre Tochter ungläubig an.
Laura beeilte sich hinzuzufügen: »Ich spiel vorher auch was auf der Blockflöte, versprochen. Und wenn’s unbedingt sein muss, singe ich auch Weihnachtslieder für dich. Aber danach darf ich zu Louisa, oder?«
Anna brauchte einen Moment, um ihre Sprache wiederzufinden. Sie war fassungslos.
»Du willst Weihnachten mit deinen Freundinnen verbringen? Habe ich das richtig verstanden? Du willst an Heiligabend woanders hinfahren? An Heiligabend? Mit vierzehn Jahren?«
»Ich werd doch bald fünfzehn. Außerdem gehe ich ja erst, wenn Heiligabend vorbei ist. Ich mach hier alles mit, was wir immer machen. Nur werde ich nach dem Essen abgeholt. Ist doch nicht
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