Nelson DeMille
stand auf, ging aber nicht. Stattdessen trat ich ans Fenster und schaute auf die untergehende Sonne. Von hier aus sah ich zwischen den Bäumen hindurch einen Streifen vom Sund, und die Sonne funkelte auf dem Wasser.
»Was sehen Sie?«
Ich warf einen kurzen Blick zu Ethel. »Sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Ich holte tief Luft. »Ich sehe die Sonne auf dem Wasser funkeln, ich sehe Bäume, und die Blätter glitzern vom Regen. Ich sehe, dass der Himmel aufklart und weiße Wolken über den Horizont ziehen. Ich sehe die Spitze von Hampstead Harbor und Boote, und ich sehe das Land auf der anderen Seite des Sunds und Möwenschwärme, die über dem Wasser kreisen.«
»Es ist wunderschön, nicht wahr?«
»Ja, das ist es.«
»Ich hätte mehr darauf achten sollen.« »Das sollten wir alle.«
Eine ganze Minute lang sagte keiner von uns etwas, dann trat ich an ihr Bett. Sie hielt den Plüschbären, und ich sah Tränen in ihren Augen.
Ich holte ein Papiertaschentuch aus der Schachtel und tupfte ihr die Wangen ab. Sie nahm meine Hand und sagte: »Danke, dass Sie gekommen sind, John.«
Ihre Hand war eiskalt und trocken, und das machte mir mehr als ihr Aussehen bewusst, dass sie dem Tod näher stand als dem Leben.
Sie drückte meine Hand. »Ich habe Sie nie gemocht, müssen Sie wissen.«
Ich lächelte und erwiderte: »Ich weiß.«
»Aber ich habe Sie geachtet.«
Geständnisse auf dem Sterbebett sind ein zulässiges Beweismaterial und gelten als wahrhaftig. »Danke.«
Sie gestand weiter: »Sie sind ein anständiger Mann. Davon gibt's nicht mehr viele.«
Ich pflichtete ihr bei. »Sie sind eine echte Dame.«
»Sie haben sich verirrt, John. Finden Sie den Weg nach Hause.«
»Ich versuch's.«
»Rufen Sie sie an. Und rufen Sie Ihre Mutter an. Und Ihre Kinder. Strecken Sie die Hand nach denen aus, die Sie lieben oder mal geliebt haben.« »Wird gemacht.«
Wieder drückte sie meine Hand und sagte: »Wiedersehen.«
Ich erwiderte den Druck, bevor ich ihre Hand losließ und mich vom entfernte. Dann kehrte ich um, bückte mich und küsste sie auf die Wang Rasch verließ ich das Zimmer und ging zum Fahrstuhl.
10
Ich verließ das Fair Häven Hospice House, trat in die strahlende Sonne und atmete tief die frische Luft ein, freute mich, wieder draußen zu sein, war aber auch froh, dass ich hergekommen war. Obwohl Ethel und ich einander nie gemocht hatten, war sie eine meiner letzten Verbindungen zur Vergangenheit und zu George, dem ich sehr zugetan gewesen war. Daher war ich, ehrlich gesagt, ein bisschen traurig.
Außerdem beunruhigte mich, dass Ethel Susan erwähnt hatte. Ich war völlig zufrieden damit, meinen Groll mit mir herumzuschleppen, und ich wollte nicht hören, dass Susan ... nun ja, was auch immer.
Was dieses Thema anging, kam mir der Gedanke, dass Susan hierherkommen könnte, um Ethel zu besuchen, und ich wollte ihr nicht begegnen, deshalb hielt ich die Augen offen, als ich mich auf den Weg zum Parkplatz machte. Außerdem konnte ich mir gut vorstellen, dass meine Mutter herkam, um ihre alte sozialistische Gefährtin zu sehen. In Amerika überwindet die Politik sämtliche Schranken - ohne Rücksicht auf Klasse, Rasse, Ethnie oder Intelligenzquotient.
Und was Harriet Sutter anging, sollte ich zu meiner Verteidigung erklären, dass ich kein schlechter Sohn bin; sie ist eine schlechte Mutter gewesen, die sich mehr dafür interessierte, die Welt zu retten, als ihre beiden Kinder aufzuziehen. Mein Vater war ein anständiger, wenn auch etwas unnahbarer Mann, aber seine Frau bestimmte über sein Leben, und Harriet hatte wenig Zeit für mich, Emily oder meine Kinder. Aber seltsamerweise stand und stehen sich Harriet und die verrückte Susan sehr nahe, und dass Susan mich betrogen hatte, änderte nichts an Harriets hoher Meinung von ihr; meine Mutter schlug mir sogar vor, dass ich versuchen sollte zu verstehen, weshalb Susan »fremdgegangen« war, wie sie es bezeichnete - ich nenne es: mit einem anderen Mann ficken -, und sie legte mir psychologische Beratung nahe, damit ich meine eigenen Fehler besser verstehen könnte, die möglicherweise zu Susans unerfülltem was auch immer geführt hätten.
Meiner Meinung nach reiner Blödsinn. Ich konnte regelrecht hören, wie Ethel Allard und Harriet Sutter beim Tee darüber plauderten und sich fragten, warum sich der alberne John so echauffierte, nur weil der armen, süßen Susan leider ein kleiner Lapsus in Sachen Urteilsvermögen unterlaufen war. Ethel kann ich vergeben. Meiner
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