Nelson DeMille
feststellen, dass George Hunnings vorher nicht Bescheid gesagt und auch keine Anweisungen hinterlassen hatte.
»Ich habe die Bibelstelle und die Lieder ausgesucht«, sagte Ethel.
Ich fragte mich, ob sie auch den Tag ausgesucht hatte. Wenn ja, würde ich gern das Datum erfahren.
»Ich werde auf dem Friedhof der Stanhopes beerdigt.«
Ich nickte. Die Stanhopes, die zu Lebzeiten so viel Land gebraucht hatten, lagen jetzt alle eng beisammen auf einem privaten Friedhof. Und nach Art der Pharaonen hatten sie Vorsorge dafür getroffen, dass sich ihr Personal zu ihnen gesellte. Ich meine, sie brachten sie nicht um, sondern stellten ihnen bloß als freiwillige Leistung ein Grab zur Verfügung, und zwar umsonst. Viele der alten Familienbediensteten, darunter auch George Allard, waren auf dem sogenannten » Stanhope'schen Gottesacker« begraben. Ich glaube, auch für mich war dort ein Grab vorgesehen, aber möglicherweise habe ich das bei der Scheidung verloren.
»Ich werde neben George liegen«, sagte Ethel.
»Natürlich.« Armer George.
Ich erinnerte mich an Georges Beerdigung vor zehn Jahren und dachte daran, dass Ethel nach der Bestattung verschwunden war, worauf ich sie suchen ging und am Grab von Augustus Stanhope entdeckte, ihrem längst verstorbenen Dienstherrn und Geliebten. Sie weinte. Dann hatte sie sich an mich gewandt und gesagt: »Ich habe ihn sehr geliebt... aber es durfte nicht sein. Nicht in dieser Zeit. Ich vermisse ihn noch immer.«
Ich betrachtete Ethel, wie sie jetzt dalag, während allmählich das Leben aus ihrem ausgemergelten Leib wich, und dachte an die alten Fotos, die ich von ihr gesehen hatte - ein junges, hübsches Mädchen, das in eine Welt geboren wurde, in der so vieles nicht sein durfte.
Heutzutage war alles möglich - zumindest kam es einem so vor -, aber der Glücksquotient war nicht gestiegen, obwohl oder vielleicht weil wir so gut wie alles machen durften, was wir wollten.
Ethel schaute mich an und sagte: »Ich werde ihn wiedersehen.«
Ich war mir nicht sicher, ob sie George oder Augustus meinte, und fragte mich, wie man im Himmel mit Dreiecksbeziehungen umging. »Ja, das werden Sie.«
Zu mir, vielleicht aber auch zu sich selbst, sagte Ethel: »Ich freue mich darauf, alle meine Freunde und Verwandten wiederzusehen, die vor mir gegangen sind.«
Ich erwiderte nichts.
Zum Thema Wiedersehen erklärte mir Ethel: »Mrs Sutter würde Sie gern sehen.« Ich tat, als verstünde ich nicht recht, und erwiderte: »Meine Mutter und ich sprechen kaum miteinander, Mrs Allard.« »Ich spreche von Ihrer Frau.« »Exfrau.«
»Sie ist sehr enttäuscht, dass Sie sie nicht angerufen haben.«
Das kam überraschend, und ich wusste nicht, wie mir dabei zumute war. Genau genommen fühlte ich mich ziemlich lausig, aber ich erklärte Ethel: »Das Telefon funktioniert auf zweierlei Art.«
»Mr Sutter, wenn ich persönlich werden darf - ich glaube, Sie sollten die Sache vergeben und vergessen.«
Ich verfiel in meinen alten hochherrschaftlichen Tonfall. »Mrs Allard, ich habe vergeben und vergessen, und ich möchte nicht weiter über dieses Thema sprechen.«
Sie schon, und da sie in der einzigartigen Lage war, zu sagen, was sie wollte, ohne dass es irgendwelche Folgen nach sich zog, sagte sie: »Sie tun sich und ihr weh.«
Meine Güte. Die schrullige alte Ethel sah das himmlische Licht und war fest entschlossen, irgendetwas Gutes zu tun, bevor sie von Petrus verhört werden würde.
Außerdem wusste Ethel - um in einem etwas irdischeren Rahmen zu bleiben -ein, zwei Dinge über Ehebruch und die Schwäche des Fleisches, deshalb gab sie Susan in dieser Sache einen Freifahrschein. Mit anderen Worten, Ethel und Susan hatten etwas gemeinsam; beide hatten nämlich über die Stränge geschlagen. Das waren natürlich zwei ganz verschiedene Fälle mit ganz verschiedenem Ausgang, aber grundsätzlich lief es darauf hinaus, dass in der Vergangenheit jeweils ein Paar Männerschuhe unter ihren Betten gestanden hatte, das dort nichts zu suchen hatte.
Ich war ein bisschen ungehalten und sagte rein hypothetisch zu ihr: »Hätte George Ihnen vergeben, wenn Sie -?«
»Er hat es getan.«
»Oh ... « Ich hätte nie gedacht, dass George über Augustus Bescheid wusste. Tja, George war ein nachsichtiger Mensch, und ich bin es nicht. Außerdem bekam George die mietfreie Unterkunft. »Das Thema ist erledigt«, erinnerte ich sie. Ich schaute auf meine Uhr. »Vielleicht sollte ich besser gehen.«
»Wie Sie wünschen.«
Ich
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