Nelson DeMille
Anliegen, deshalb ließ ich ihn weitermachen.
Er fuhr fort: »Und es ist Sommer, und es gibt keine Klimaanlage, und diese Typen haben alle Anzüge und Krawatten an und wollene Unterwäsche oder so was Ähnliches. Richtig?«
»Genau.«
»Vielleicht hatten sie einen Kühlschank da oben.« »Vielleicht.« »Gab's damals schon elektrische Ventilatoren?«
»Gute Frage.« Was mich auf eine andere gute Frage brachte. »Worauf wollen Sie hinaus?«
»Tja, auf zweierlei. Vielleicht sogar dreierlei.« »Darf ich eines erfahren?«
»Yeah. Zunächst mal steht das Gebäude zum Verkauf. Drei Millionen. Was halten Sie davon?« »Kaufen Sie's.«
»Yeah. Warum?«
»Weil Sie es wollen.«
»In der Tat. Es ist ein Stück Geschichte.«
»Unschätzbar wertvoll.« Ich warf einen Blick auf meine Uhr und sagte: »Ich muss los. Ich rufe mir ein Taxi.«
»Sie laufen ständig davon. Erst kreuzen Sie auf, dann laufen Sie davon.«
Das war ebenso zutreffend wie scharfsinnig. Ich nehme an, ich hatte einen Annäherungs-Vermeidungsreflex bezüglich der Bellarosas. »Diesmal bin ich nicht unbedingt aufgekreuzt«, sagte ich. »Ich wurde entführt. Aber ich lasse Ihnen noch zehn Minuten Zeit.«
»Machen Sie zwölf draus. Also, ich denke dran, den Buchladen im Erdgeschoss rauszuschmeißen und einen richtigen Geldbringer reinzusetzen - eine Art erstklassige Kettenboutique, vielleicht auch eine Restaurantfiliale. Eine Baskin -Robbins-Eisdiele oder ein Starbucks. Was meinen Sie?«
»Darüber müssen Sie mit den Stadtvätern sprechen.« »Yeah. Das ist mir klar. Genau da stoßen Sie dazu.« »Da steige ich aus.«
»Kommen Sie, John. Ist doch nichts weiter dabei. Ich kaufe das Haus, Sie kümmern sich um den Geschäftsabschluss, dann finden Sie heraus, was die alten Säcke zulassen.« Er deutete die belebte Straße auf und ab und sagte: »Schaun Sie sich das Kaff an. Geld. Ich könnte fünfmal so viel Miete einnehmen, wenn ich es als historische Stätte anpreise.« »Naja -«
»Mit den oberen Räumen ist es das Gleiche. Vielleicht eine Anwaltskanzlei. Wenn ich zum Beispiel Teddy Roosevelts Zimmer vermiete. Die Mandanten würden drauf abfahren. Ich lass 'nen Innenarchitekten ran und sorg dafür, dass es aussieht wie vor hundert Jahren. Bis auf die Toiletten und die Klimaanlage. Lieg ich damit völlig daneben?«
»Anthony, ich war zehn Jahre weg. Besorgen Sie sich jemanden, der die Kosten für Sie regelt.«
»Scheiß auf die Kosten. Ich will ein Stück Geschichte kaufen.« »Okay. Viel Glück.«
»Und jetzt kommt mein zweiter Vorschlag. Und dabei geht es um nichts Geschäftliches, sondern um die Frage: Was, verflucht noch mal, ist aus diesem Land geworden?«
Nun ja, zum einen gab es die Mafia immer noch. Aber Menschen, die Teil des Problems sind, betrachten sich nie als solches; schuld sind immer die anderen. Ich erwiderte: »So, wie ich die Sache sehe, liegt es an den Fastfoodketten und den Anwälten. Von beidem gibt es zu viele.«
»Yeah, aber es geht noch um viel mehr. Glauben Sie, der Präsident könnte heutzutage noch mit einem Leibwächter die Straße entlanglaufen?«
»Sie machen es doch auch. Und Ihrer sitzt im Auto.« »Ich bin nicht der Scheißpräsident, John.«
Mir fiel auf, dass er nicht sagte: »Mich will niemand umbringen, John«, was die meisten Menschen gesagt hätten.
Er fuhr fort: »Julius Caesar verließ den Senat ohne Leibwächter, ohne Prätorianergarde, weil das damals so üblich war. Doch er wurde erstochen. Und das war das Ende der Republik und der Anfang des Kaiserreichs, als sich die Herrscher für Götter hielten. Verstehen Sie?«
»Mir ist klar, worauf Sie hinauswollen. Aber es gibt keine Rückkehr zu einfacheren Zeiten. Oder sichereren Zeiten.«
»Richtig ... aber wenn ich hier so stehe, denke ich ... ich weiß es nicht. Vielleicht... dass wir irgendwas verloren haben.«
Er brachte die Gedanken nicht zu Ende, die ihm durch den Kopf gingen, und offen gesagt, überraschte es mich, dass er sich überhaupt mit solchen Gedanken beschäftigte. Mir fiel allerdings ein, dass auch sein Vater ein paar halbgare Ansichten zu den Weltläufen, die ihm nicht gefielen, gehegt hatte. Und ich nehme an, Anthony war, wie vielen Menschen, nach dem 11. September klargeworden, dass zu seinem ichbezogenen Leben mehr gehörte als eine schwierige Frau, eine komplizierte Familiengeschichte, eine gluckende Mutter und ein stressiger Beruf. Gut möglich, dass auch er an seine eigene Vergänglichkeit dachte.
Anthony zündete sich eine
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