Nelson DeMille
verarbeitet.
»Woran denken Sie?«, fragte mich Anthony.
»An die Lasagne Ihrer Mutter.«
Er lachte. »Gut, Sie kriegen eine.«
Ein Abendessen bei den Bellarosas stand auf meinem Terminplan nicht an oberster Stelle, daher sagte ich: »Ich bin am Sonntag beschäftigt. Aber besten Dank.«
»Sehen Sie zu, dass Sie vorbeischaun. Wir essen um vier. Ich gebe dem Typ am Wachhaus Ihren Namen, und er erklärt Ihnen den Weg.« Ich antwortete nicht.
Wir fuhren an der Küste entlang und kamen schließlich ins idyllische Oyster Bay, in dessen Zentrum es von Wochenendausflüglern im Freizeitstress wimmelte.
Als ich noch jünger war und die Kinder kleiner, vergingen unsere Samstage nie ohne Hektik. Carolyn und Edward mussten immer zu irgendwelchen Sportveranstaltungen, Golf- und Tennisstunden oder Geburtstagspartys, oder Susan und die anderen Mütter hatten irgendwas für sie gekocht, und man musste sie irgendwohin fahren, für gewöhnlich mit Freunden, wobei die Zeit so knapp war und alles derart genau aufeinander abgestimmt wurde, dass wir es mit den Flying Wallendas hätten aufnehmen können.
Das war natürlich, bevor es Handys gab, und ich konnte mich erinnern, dass ich ein paar Kids verloren, ein paar Abholaktionen vergessen und Edward und seine Freunde einmal beim falschen Fußballspiel abgesetzt hatte.
»Was ist so komisch?«
Ich warf Anthony einen kurzen Blick zu und erwiderte: »Das ist aufregend. Ich bin noch nie entführt worden.«
Er kicherte. »Hey, Sie werden nicht entführt. Sie tun mir einen Gefallen. Und Sie werden wieder heimgefahren.«
»Auch wenn ich Ihnen keinen Gefallen tue?«
»Tja, dann müssen wir mal sehen.« Er hielt das für komisch, und Tony ebenso. Ich aber nicht.
Tony fand in der Nähe der Ortsmitte einen Parkplatz im Halteverbot und blieb im Auto, während Anthony und ich ausstiegen. Wir gingen die Main Street entlang, und mir kam der Gedanke, dass ich von keinem Bekannten mit einem Mafia-Don gesehen werden wollte, doch dann wurde mir klar, dass es keine Rolle spielte. Noch besser: Es könnte Spaß machen.
Anthony blieb an der Ecke stehen, an der die Main Street eine andere Einkaufsstraße kreuzte, deutete auf einen zweistöckigen Ziegelbau an der gegenüberliegenden Ecke und erklärte mir: »Das ist ein historisches Gebäude.«
»Wirklich?« Ich kannte das Haus natürlich, da ich den Großteil meines Lebens in Oyster Bay gewohnt hatte, aber Anthony konnte sich ebenso wie sein Vater nicht vorstellen, dass man irgendetwas wusste, es sei denn, man hatte es von ihm erfahren.
Anthony klärte mich also weiter auf: »Das war Teddy Roosevelts Sommeramtssitz.« Er warf mir einen kurzen Blick zu, um zu sehen, ob ich sein erstaunliches Wissen zu würdigen wusste. Er deutete hin und sagte: »Im ersten Stock.«
»Ehrlich?«
»Können Sie das fassen, dass der Präsident der Vereinigten Staaten das ganze Land von dieser Bruchbude aus regiert hat?«
»Kaum zu glauben.« Es war eigentlich keine Bruchbude; es war vielmehr ein ziemlich hübsches Gebäude aus der Zeit um die Jahrhundertwende, mit einem Mansardendach, einer Mischung aus Buchhandlung und Cafe im Erdgeschoss und Apartments in den oberen Stockwerken, zu denen man durch eine Tür rechts vom Buchladen gelangte.
»Sie müssen sich das mal vorstellen - der Präsident fährt von seinem Haus am Sagamore Hill in das Kaff« - er deutete nach Osten, wo etwa drei Meilen entfernt noch immer Teddy Roosevelts Weißes Haus für die Sommermonate stand - »und er hat womöglich einen Typ vom Secret Service und einen Fahrer bei sich. Und er steigt einfach aus dem Auto, tippt sich vor ein paar Leuten an den Strohhut, geht durch die Tür und steigt die Treppe rauf. Richtig?«
»Und vielleicht besorgt er sich vorher einen Kaffee und ein paar Bagels«, schlug ich vor, um das Bild auszumalen.
»Yeah ... nein - keine Bagels. Jedenfalls waren damals Büros da oben, und er hatte einen Sekretär - einen Typ - und vielleicht noch 'nen andern Typ, der Telegramme verschickt und die Post abgeholt hat. Und in der Drogerie an der nächsten Querstraße gibt es ein Telefon.« Er schaute mich an und fragte: »Können Sie das fassen?«
Ich meinte bereits gesagt zu haben, dass es kaum zu glauben war, aber um seine Frage zu beantworten, erwiderte ich erneut: »Kaum zu glauben.« Genau genommen hatte Roosevelt den Großteil seiner Arbeit am Sagamore Hill erledigt und war nur selten in dieses Büro gekommen, doch Anthony wirkte so begeistert und er hatte irgendein
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