Nelson DeMille
ich ein Taxi nehmen oder die fünf, sechs Meilen nach Hause laufen sollte, ging mir ein anderer Gedanke, den ich mir bislang verkniffen hatte, durch den Kopf.
Wenn ich genau darüber nachdachte und daraus die zwangsläufige Schlussfolgerung zog, dann musste ich mir darüber im Klaren sein, dass Anthony Bellarosa trotz seiner Aussage nicht dulden würde, dass Susan, die Mörderin seines Vaters, an der gleichen Straße lebte wie er. Oder überhaupt am Leben war. Das konnte er einfach nicht zulassen. Und es gab zweifellosLeute, die nur darauf warteten, dass er sich darum kümmerte. Und wenn er es nicht tat, dann würden sich seine Paesanos - seine Brüder vermutlich eingeschlossen - fragen, was für ein Don er war.
Und dennoch wollte Anthony, dass ich für ihn arbeitete, und das stillschweigende Einverständnis lautete, dass Susan in Sicherheit war, wenn ich es tat. Vorerst.
Folglich ... musste ich zumindest mitspielen, bis ich mit Susan gesprochen hatte. Es kommt wirklich darauf an, dass man seine Freunde in der Nähe hat und seine Feinde noch näher.
Ich drehte mich um und ging zurück.
16
Die Tür stand noch offen, und ich stieg die Treppe hoch.
Oben angekommen, öffnete ich die einzige vorhandene Tür, hinter der sich das Wohnzimmer eines leerstehenden Apartments befand. Der Teppichboden war abgetreten, die beige Farbe schmuddelig, und die hohe Decke sah aus, als wollte sie jeden Moment einstürzen. Alles in allem ein deprimierender Raum, wenn man mal davon absah, dass er große Fenster hatte und sonnig war.
Der Mafia-Don war allem Anschein nach weg, doch dann hörte ich eine Toilettenspülung, und eine Tür auf der anderen Seite des Zimmers ging auf, und Anthony sagte, als ob ich die ganze Zeit da gewesen wäre: »Der ganze Scheiß muss rausgerissen werden. Aber ich besitze eine Baufirma - hey, erinnern Sie sich noch an Dominic? Er hat den Pferdestall bei Ihrem Haus gebaut.« Des Weiteren erklärte er mir: »Irgendwann in den dreißiger Jahren hat man die Büros in Apartments umgebaut. Wenn ich also die Mieter loswerde, kann ich für Büroräume doppelt so viel Miete kriegen. Richtig?« Ich ging nicht darauf ein.
»Ich sehe große, schicke Stuckarbeiten, dicke Teppiche und Mahagonitüren. Und wissen Sie, was ich an dieser Tür sehe? Ich sehe dort ein Schild, auf dem in goldenen Lettern steht: >John Whitman Sutter, Rechtsanwalts Können Sie das auch sehen?«
»Möglicherweise.«
Er reagierte nicht auf dieses Anzeichen einer Kapitulation, dachte sich vermutlich zu Recht, dass ich bereit war zuzuhören, nachdem ich die Treppe hochgestiegen war.
»Schaun Sie sich die andern Zimmer an.« Er ging durch eine Tür, und ich folgte ihm in ein großes Eckschlafzimmer, von dem ich auf die Straßen hinabschauen konnte. Die abblätternden Tapeten waren weiß überstrichen, und der Teppichboden
sah aus wie Kunstrasen. »Der Makler hat gesagt, das war Roosevelts Büro«, sagte Anthony.
Der Makler irrte sich oder log wahrscheinlich. Wie schon gesagt, hatte Roosevelt sein Büro am Sagamore Hill, und das hier war vermutlich das Büro seines Sekretärs gewesen. Anthony wurde von einem pfiffigen Makler, der den Wert der Immobilie in die Höhe treiben wollte, über den Tisch gezogen. Noch interessanter war, dass Anthony ihm die Geschichte abkaufte, wie es Leute tun, die eher begeistert sind als schlau. Wenn Frank hier wäre, würde er seinem Sohn eine Kopfnuss verpassen und sagen: »Ich hab in Brooklyn eine Brücke, die ich dir verkaufe.«
Anthony fuhr fort: »Roosevelt konnte aus diesen Fenstern schaun und die Bräute auschecken.« Er lachte: »Hey, glauben Sie, er hatte eine Comare?«
Mir fiel ein, dass Frank dieses Wort benutzte, und als ich Susan, die ein ganz passables Schulitalienisch sprach, fragte, was es bedeutete, sagte sie: »Patentante«, doch das passte nicht recht in den Zusammenhang, in dem Frank es verwendete. Deshalb hatte ich Jack Weinstein gefragt, Franks jüdischen Consigliere und meinen Mafia-Dolmetscher, und Jack sagte mit einem Lächeln: »Wortwörtlich bedeutet es > Patentante <, aber es ist auch der umgangssprachliche Ausdruck der verheirateten Jungs für ihre Freundin oder Geliebte. Wie zum Beispiel: >Ich treffe mich heute Abend mit meiner Patentante.< Lustig.«
Zum Brüllen. Hier ist ein weiteres Beispiel dafür, wie man das Wort in einem Satz benutzen kann: Frank hatte eine Comare namens Susan.
Anthony fragte: »Was meinen Sie? Glauben Sie, er hat sich unter dem Schreibtisch hier einen
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