Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
Kopfbewegung nach links. Im ersten Moment erkannte ich auch in dieser Richtung nichts außer Dunkelheit, aber der Ausdruck auf Judiths Gesicht war zu besorgt gewesen, sodass ich noch einmal und genauer hinsah.
Die Dunkelheit dort drüben war nicht homogen, sondern hatte verschiedene Schattierungen, und einmal darauf aufmerksam geworden, dauerte es nur noch Augenblicke, bis ich die Umrisse eines gedrungenen runden Turmes erkannte, die in vollkommener Schwärze aus der etwas samteneren Dunkelheit des Nachthimmels dahinter gestanzt waren.
»Das ist der alte Donjon, ja«, sagte ich. »Man konnte ihn deutlich sehen, als wir heraufgefahren sind.« Judith sah mich fragend an, und ich verbesserte mich: »Bergfried, wenn es dir lieber ist.«
»Das meine ich nicht.« Judith schauderte und es war nicht geschauspielert. Ich war ihr immer noch nahe genug, um zu sehen, wie sich die feinen Härchen in ihrem Nacken aufrichteten. »Hörst du nichts?«
Hören? Ich lauschte angestrengt, schüttelte den Kopf und lauschte dann noch konzentrierter, als sich der besorgte Ausdruck auf Judiths Gesicht beharrlich weigerte, irgendetwas anderem zu weichen.
Und schließlich hörte ich es auch: ein ganz feines, hohes Fiepen, leise und weit entfernt, wie der Laut einer Hundepfeife, die jemand unten im Ort blies; nur irgendwie aufgeregter und dass es sich um ein ganzes Orchester davon zu handeln schien.
»Fledermäuse.« Mehr noch als die feinen Härchen in Judiths Nacken sträubte sich etwas in ihrer Stimme, als sie das Wort aussprach.
»Vermutlich«, bestätigte ich — und kaum hatte ich das Wort ausgesprochen, glaubte ich tatsächlich eine Anzahl winziger, hektisch hin und her flatternder Schatten zu erkennen, die den Turm umkreisten. Aber das war wahrscheinlich wirklich Einbildung. »Wahrscheinlich sogar. Sie leben gerne in alten Türmen und Dachstühlen, weißt du? So etwas wie diese Ruine könnte eigens für sie gebaut worden sein.«
»Verdammt noch mal, das hätte er uns sagen können!«, sagte Judith mit zitternder Stimme.
»Sag nicht, du fürchtest dich vor Fledermäusen!«
»Ich hasse die Viecher«, antwortete Judith. »Mach …« Sie fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen.
»Mach das Fenster zu … bitte!«
»Sie kommen bestimmt nicht herein«, versicherte ich.
»Fledermäuse mögen kein Licht. Und menschliche Gesellschaft schon gar nicht.«
»Ich weiß«, antwortete Judith. Sie versuchte zu lächeln, aber es misslang kläglich und geriet zu einem Ausdruck kaum noch unterdrückter Panik. »Aber mir wäre trotzdem wohler, wenn du das Fenster zumachen könntest.«
Diesmal reagierte ich sofort. Der Klang in ihrer Stimme war echte Angst, und wer war ich, irgendjemandem seine Phobie vorhalten zu können? Ausgerechnet ich? Ich schloss das Fenster, legte den Riegel vor und überzeugte mich (und vor allem Judith) dann noch einmal mit einem übertriebenen Rütteln am Griff, dass auch wirklich zuverlässig abgeschlossen war. Judith atmete erleichtert auf, aber ich konnte auch sehen, dass die Angst in ihren Augen nur zurückkroch, nicht ganz verschwand.
»Danke«, sagte sie.
»Kein Problem.«
»Doch, es ist ein Problem. Du musst mich für eine hysterische Ziege halten, die —«
»Das tue ich keineswegs«, unterbrach ich sie. »Ich weiß, was eine Phobie ist. Wenn der Hof dort unten voller Spinnen oder Kakerlaken wäre, würde ich jetzt wahrscheinlich schon wimmernd auf dem Schrank hocken und nach meiner Mami schreien.«
»Spinnen und Kakerlaken?«
»Alles, was mehr als vier Beine hat«, bestätigte ich — was nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber ich hatte das Gefühl, dass ein wenig Übertreibung in diesem Falle durchaus dazu beitragen konnte, Judith zu beruhigen.
»Das ist völlig verrückt«, fuhr Judith fort, noch immer nervös und im Tonfall einer Verteidigung und ohne mir direkt in die Augen zu sehen. »Ich liebe Mäuse, weißt du?
Ich finde sie niedlich — und Ratten genauso. Als Kind hatte ich sogar eine eigene Maus und … und ich habe auch kein Problem mit Vögeln. Aber Fledermäuse … ich komme einfach nicht dagegen an.« Sie gab sich einen sichtbaren Ruck, atmete tief und hörbar ein und zwang sich, mir in die Augen zu blicken. Ich konnte sehen, wie schwer es ihr fiel.
»Entschuldige. Ich —«
Ihr Vorrat an Selbstbeherrschung war so schnell erschöpft, wie sie ihn zusammengerafft hatte. Plötzlich begann sie am ganzen Leib zu zittern, und in ihrem Blick war jetzt echte Panik zu lesen,
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