Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
nicht mehr nur ihre Vorboten. Ihre Lippen bebten.
Natürlich wusste ich, dass es ein Fehler war, noch bevor und auch während ich es tat, aber ich hätte schon aus Stein sein müssen, um irgendetwas anderes zu tun, als mit einem einzigen Schritt bei ihr zu sein und sie tröstend in die Arme zu nehmen. Einen Moment lang standen wir einfach so da, eng aneinander geklammert und schweigend, Judiths Schultern bebten, ich erlebte erneut den betörenden Duft ihres Haares, spürte, wie weich und fraulich und verwundbar ihr Körper unter dem dünnen Pullover war, und nach einem weiteren, unfassbar kurzen Augenblick legte sie langsam den Kopf in den Nacken und sah zu mir hoch. Im allerersten Moment schmeckten ihre Lippen salzig, nach den Tränen, die sie nicht mehr ganz hatte zurückhalten können, aber dann wurden sie süß und weich … Ach verdammt, warum eigentlich nicht?!
*
Es waren nicht die Straßen von Crailsfelden, über die ich stolperte. Im ersten Moment glaubte ich, dass sie es seien; mein Verstand sagte mir, dass sie es sein mussten: Ich war in Crailsfelden eingeschlafen, also musste ich immer noch in Crailsfelden sein. Aber das war ich nicht. Darüber hinaus konnte ich das Kloster (von Crailsfelden ganz zu schweigen) schwerlich verlassen haben, denn ich lag noch immer auf dem schmalen, muffig riechenden Jugendbett im Dachgeschoss des ehemaligen Klosters und schlief. Der einzige Ort, an dem diese bizarre Szenerie existierte, war die Pseudorealität meiner Träume.
Es war nicht das erste Mal, dass ich träumte und mir dessen vollkommen bewusst war; im Gegenteil. Ich weiß, dass das ungewöhnlich ist — zumindest habe ich nie jemanden getroffen, dem es genauso ergeht —, aber solange ich mich zurückerinnern kann, war ich mir fast immer der Tatsache bewusst gewesen, zu träumen, wenn ich träumte — und ich träumte oft. Banale Szenen, die ich am Tag zuvor erlebt hatte, surrealistische Impressionen, die keinen Sinn hatten und auch keinen ergaben, so oft und so lange man auch darüber nachdachte, Alpträume, die mir schier das Blut in den Adern gefrieren ließen, erotische Fantasien … den üblichen Mist eben, mit dem sich jedes Gehirn beschäftigt, um die Zeit totzuschlagen, während der Körper im Leerlauf vor sich hin tuckert, um neue Kräfte zu sammeln. Mit einem Unterschied: Ich wusste fast immer, dass ich nur träumte, und zumindest wenn diese Träume einen Sinn ergaben, konnte ich sie sogar genießen; mein ganz privates Kino im Kopf, bei dem ich mich gemütlich zurücklehnen und der Dinge harren konnte, die da kamen.
Doch zwei Dinge waren heute anders: Ich wusste sofort, dass es ein Alptraum war — einer von der ganz üblen Sorte, die schlimm begannen und schnell den Punkt erreichten, an dem es einfach nicht mehr schlimmer werden konnte (nur um dann erst richtig loszulegen, versteht sich) —, und dieses Wissen schützte mich nicht vor der Angst, die mit dem Alptraum kam. Mein Herz hämmerte. Ich war in Schweiß gebadet. Meine nackten, blutigen Füße schrammten über hartes Kopfsteinpflaster, dessen Mörtel offensichtlich nicht nur aus Kalk und Sand zusammengerührt worden war, sondern auch aus einer gehörigen Portion Eisennägeln, denn jeder Schritt löste eine neue grelle Schmerzexplosion in meinen Fußsohlen aus, und die Häuser standen ebenso dicht beieinander wie in dem kleinen, unscheinbaren Städtchen, und trotzdem war ich nicht in Crailsfelden. Nicht mehr.
Crailsfeldens Straßen waren nicht mit Stroh und faulenden Abfällen übersät, in Crailsfelden rasten keine wie verrückt quietschenden Schweine durch die Gassen, Crailsfelden stank nicht so erbärmlich. Und Crailsfelden brannte nicht.
Diese Stadt brannte. Aus vielen der strohgedeckten Dächer schlugen Flammen in die Höhe, aus den glaslosen Fenstern der mittelalterlichen Gebäude quoll dichter schwarzer Rauch, der wie eine zerrissene Wolldecke über den Straßen hing und das Atmen fast unmöglich machte.
Über mir kreisten Fledermäuse, kreischten ihr unhörbares Ultraschallkreischen, flatterten wie wild mit ihren Schwingen. Einige von ihnen brannten, andere stießen immer wieder blitzschnell herab, wie um sich im Sturzflug auf einen unsichtbaren Gegner zu werfen, und prallten dabei gegen Dächer und Wände. Manche zerschmetterten auf dem Boden.
Es war laut, unglaublich laut. Die Schreie der Menschen und das Quieken und Grunzen der Tiere, die aus ihren Stallungen flohen, übertönte beinahe das Prasseln der Flammen, irgendwo
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