Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
und sich an der gegenüberliegenden Wand abstützen.
»Ups!«, sagte sie. »Das war —«
»— vielleicht doch ein wenig zu viel des Guten«, beendete ich den Satz. »Du hast einen genauso anstrengenden Tag hinter dir wie wir alle. Tu dir selbst einen Gefallen und geh schlafen. Ich fürchte, morgen wird es noch ein wenig aufregender.«
Warum auch immer — diesmal hatte ich Judith wirklich beleidigt. Sie starrte mich an und für die Dauer dieses einzelnen Blickes wirkte sie unglaublich verletzt und getroffen. Sofort setzte ich zu einer Entschuldigung an, aber Judith kam mir zuvor.
»Ich bin nicht betrunken, wenn du das meinst«, sagte sie.
»Ich bin zu schnell aufgestanden, das ist alles. Manchmal wird mir dabei schwindelig.«
Ich sagte nichts, blickte aber vielsagend auf die leere Flasche, die auf meinem Bett lag. Hätte ich so viel Alkohol in so kurzer Zeit getrunken, wäre ich betrunken gewesen.
Aber vielleicht war es besser, wenn ich gar nichts mehr sagte.
»Ich brauche nur ein bisschen frische Luft«, fuhr Judith fort. Sie machte eine Kopfbewegung auf das schmale Fenster in der Dachschräge. »Kann man das Ding aufmachen?
Meines ist eingerostet.«
Ich hatte keine Ahnung, aber die Idee, das Fenster zu öffnen, gefiel mir. Vielleicht würde mir ein wenig frische Luft ebenso gut tun wie Judith; wenn auch sicher in anderer Hinsicht. Zumindest würde sie den muffigen Geruch vertreiben. Wenn ich die Wahl hatte, diese Nacht zu frieren oder sie in einem warmen Zimmer zu verbringen, das wie eine Gruft roch, zog ich ein wenig Zähneklappern vor.
Ohne direkt zu antworten, ging ich zum Fenster, drehte den Griff und musste nur einmal kurz daran ziehen, bevor sich die rostigen Angeln bewegten — wenn auch mit einem erbärmlichen Quietschen, das vermutlich noch zwei Etagen tiefer zu hören war. Eiskalte, feucht riechende Nachtluft strömte herein und vertrieb wenigstens für einen Moment den nassen Modergeruch, der das Zimmer erfüllte. Einen ganz kurzen Moment hatte ich den verrückten Eindruck, dass das Licht unter der Decke im Luftzug flackerte — was natürlich schlichtweg unmöglich war. Es war zwar eine uralte Glühbirne, aber es war immerhin eine Glühbirne.
Was hatte Judith vorhin über Dinge gesagt, von denen wir einfach glauben, dass sie so sein müssten?
Judith trat unaufgefordert an meine Seite. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um aus dem Fenster zu blicken, und sie kam mir dabei so nahe wie seit unserem Tête-á-Tete auf dem Rücksitz von Zerberus’ Landrover nicht mehr. Ich wich ganz instinktiv vor ihrer Berührung zurück; aber nicht schnell genug, um nicht erneut zu spüren, wie angenehm sie roch, und einen kurzen Schauer zu verspüren, als ihr Haar meine Wange kitzelte. Warum nicht?, flüsterte die wohl bekannte Stimme in meinem Hinterkopf. So spät ist es noch nicht. Und sooo betrunken ist sie auch noch nicht.
»Das tut gut«, seufzte Judith. Sie stand mit geschlossenen Augen am Fenster und atmete die eiskalte Nachtluft in tiefen Zügen ein. »Was für ein grässlicher Gestank in dieser Bude herrscht! Das fällt mir erst jetzt auf.«
Mir fiel eher auf, wie deutlich sich ihre Brüste unter dem dünnen Pullover hoben und senkten, während sie am Fenster stand und ein- und ausatmete. Ich sah rasch weg und machte einen weiteren Schritt zur Seite, um den Sicherheitsabstand zwischen uns zu vergrößern. Außerdem musste ich eine Menge von dem zurücknehmen, was ich vorhin über sie gedacht hatte. Sie hatte ein paar Pfunde mehr, als die Hochglanzillustrierten und die Werbeindustrie unserem guten Geschmack zubilligten, aber eigentlich saßen sie alle an den richtigen Stellen …
»Das ist unheimlich«, murmelte Judith.
»Was?«
»Das da draußen. Der ganze Anblick.«
Zögernd trat ich wieder neben sie und stellte mich ebenfalls auf die Zehenspitzen, um aus dem Fenster zu blicken. Viel gab es gar nicht zu sehen: einige Quadratmeter einer steil abfallenden Dachfläche, die wie ein nasses Puzzle aus schwarz verspiegelten Teilen im Mondlicht glänzten, dahinter einen vielleicht fingerbreiten Streifen des gegenüberliegenden Gebäudes. Irgendwo dahinter wiederum musste Crailsfelden liegen, aber alles, was ich erblickte, war vollkommene Finsternis. In der Stadt brannte entweder kein einziges Licht oder ich hatte gründlicher die Orientierung verloren, als mir bisher klar gewesen war.
»Unheimlich?« Ich sah Judith fragend an.
Sie erwiderte meinen Blick nicht, sondern machte eine
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