Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht
Richtung.«
Diesmal lachten wir beide, aber ich konnte nicht sagen, bei wem es bemühter klang. Schließlich beendete Judith die unangenehme Situation, indem sie einen weiteren Schluck trank und dann demonstrativ weit genug auf dem Bett zur Seite rutschte, um mir Platz zu machen. Sie ging nicht so weit, mit der flachen Hand auffordernd auf die Matratze neben sich zu klopfen — aber irgendwie tat sie es doch, und sei es nur durch die Art, wie sie mich ansah. Ich beschloss, beides zu ignorieren, und tat so, als würde ich noch einen Schluck trinken.
»Jetzt mal im Ernst.« Judith räusperte sich unbehaglich und wusste für einen Moment anscheinend nicht mehr, wohin mit ihrem Blick. »Das … das alles hier ist doch verrückt, oder?«
»Ich hätte es etwas drastischer formuliert«, stimmte ich ihr zu. »Ehrlich gesagt: Wenn ich diese Geschichte in einem Buch gelesen oder in einem Film gesehen hätte, dann hätte ich mich gefragt, ob der Autor einen an der Klatsche hat. Das Ganze kommt mir vor wie ein Stück aus einem Schmierentheater.«
»Ist es aber nicht«, antwortete Judith. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung, und in meinem Hinterkopf begann wieder die wohl bekannte Stimme zu flüstern, die mich fragte, ob ich eigentlich einen an der Klatsche hatte, mir eine solche Gelegenheit entgehen zu lassen. Judith hatte durchaus Recht: Die Anzahl der möglichen Konstellationen in diesem Spiel war nicht besonders groß. Um nicht zu sagen: Es gab nur eine einzige, und die saß gerade auf meinem Bett und tat ihr Möglichstes, um den Begriff versteckte Botschaften neu zu definieren. Sie winkte nicht mit dem Zaunpfahl, sondern mit dem Eiffelturm.
Unglückseligerweise rührte sich darüber hinaus in mir nichts. Judith war ein nettes Mädchen, aber mehr auch nicht.
»Ich traue der ganzen Geschichte nicht«, antwortete ich mit einiger Verspätung.
»Wieso? Weil sie zu schön wäre, um wahr zu sein?«
Judith lachte leise. »Für einen geschmacklosen Scherz ist das Ganze ein bisschen zu aufwendig in Szene gesetzt, meinst du nicht auch?« Sie machte eine flatternde Handbewegung. »Das alles hier. Von Thun, Carl, Flemming … von den Reisespesen mal ganz abgesehen … Kannst du dir ungefähr vorstellen, was der Spaß gekostet hat?«
»Ziemlich genau sogar«, antwortete ich. »Das ist es ja, was ich nicht verstehe.« Ich trank nun doch einen (winzigen) Schluck aus meiner Dose, kaute genießerisch darauf herum, als wäre es ein Schluck edelster Wein, kein Gemisch aus Tankstellen-Wodka und Aldi-Cola, und begann im Zimmer auf und ab zu gehen; immerhin eine halbwegs elegante Methode, um aus Judiths unmittelbarer Nähe zu entkommen, ohne dass es auffiel. »Weißt du, ich bin kein Anwalt oder so was, aber normalerweise laufen solche Sachen anders: ein Brief von irgendeinem Notar, ein Termin in einer Kanzlei, tausende von Formularen und Dokumenten, die beigebracht werden müssen … und dann diese haarsträubenden Bedingungen. Selbst wenn bis hierhin alles stimmt und wir wirklich alle um zwanzig Ecken mit diesem Sänger verwandt sind, glaube ich kaum, dass ein solches Testament vor irgendeinem Gericht der Welt Bestand hätte.«
»Deswegen hat er uns ja auch hierher zitiert«, meinte Judith.
»Das ändert gar nichts«, erwiderte ich überzeugt.
»Spielen wir es doch einfach mal durch. Wenn von Thun die Wahrheit gesagt hat, dann reden wir hier über viel Geld.
Ich meine: wirklich viel Geld. Zehn Millionen, vielleicht noch viel mehr.«
»Genug, dass du dich doch noch in Stefan verlieben könntest?«, kicherte Judith.
»Ich meine es ernst«, beharrte ich. Was der Wahrheit entsprach — nur dass es mir selbst erst im gleichen Moment klar wurde, in dem ich die Worte selbst aussprach.
»Wir sind zu sechst, aber nur zwei von uns teilen sich den ganzen Kuchen, während die vier anderen leer ausgehen sollen.«
»Und?«
»Und?« Ich schüttelte den Kopf. »Glaubst du wirklich, die Verlierer werden mit den Schultern zucken und sagen: Tja, schade, war nichts? Ganz bestimmt nicht. Wer immer von uns diese Farce verlieren sollte, wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dieses so genannte Testament anzufechten und seinen Anteil zu bekommen. Wir werden die nächsten fünf oder zehn Jahre vor Gericht verbringen, ganz egal wie es ausgeht.«
Judith machte ein nachdenkliches Gesicht. Sie schwieg.
»Wenn von Thun tatsächlich Notar ist oder auch nur in einer Kanzlei gearbeitet hat, dann weiß er das ganz genau«, fuhr ich fort.
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