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Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht

Titel: Nemesis 01 - Die Zeit vor Mitternacht Kostenlos Bücher Online Lesen
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hinter mir verabschiedeten sich zwei, drei der Gebäude unmittelbar nacheinander, stürzten unter gewaltigem Lärm ein und trieben Asche und Rauch durch die Stadt, eine tödliche, heiße und trockene Welle, wie die Schockwelle einer Atomexplosion, die lautlos und schnell aus einer anderen Welt herüberschwappte und alles zerstörte, worauf sie traf.
    Das Mädchen an meiner Hand schrie entsetzt auf, und ich warf ihm einen kurzen Blick zu, stellte aber fest, dass es nicht verletzt war, sondern sich nur erschrocken hatte. Der Feuersturm tobte über uns hinweg, pulverisierte Dächer und Wände und setzte das, was er nicht sofort zerstören konnte, in Brand. Aber er vermochte weder dem Mädchen (Judith — es hatte Judiths Gesicht, nur dass es viel jünger war und nicht Judiths rotes Haar hatte, sondern bis auf die Schultern fallende schwarze Locken) noch mir etwas anzutun, denn er war Teil einer anderen Horrorvision, die der Teil von mir sogar erkannte, der noch immer beharrlich darauf pochte, dass ich schlief und dass das hier alles nur ein Alptraum war, der mir nicht wirklich etwas anhaben konnte. Es war der monochrome Ausschnitt eines Filmclips aus den frühen Fünfzigern, in dem zum ersten Mal die Folgen einer Nuklearexplosion dokumentiert wurden; Bäume, die sich wie sturmgepeitschtes Gras bogen, bevor die Druckwelle zuerst die Blätter und eine Nanosekunde später die Rinde von den Stämmen fegte, ein Haus, dessen Dach sich in einer fast ästhetischen Wellenbewegung abhob und in Millionen Teile zerfiel, bevor es von einem unsichtbaren Faustschlag getroffen und zusammen mit dem Rest des Gebäudes pulverisiert wurde, ein billig eingerichtetes Zimmer voller Schaufensterpuppen, Stofftiere, Nierentischchen und Stehlampen mit gestreiften Stoffschirmen, dessen Fensterscheiben plötzlich grell aufleuchteten und sich dann in einen Hagel tödlicher Schrapnellgeschosse verwandelten, bevor die Druckwelle die Kamera traf und zerschmetterte. Jeder, der einen Fernseher besitzt, hat diese Szene schon einmal gesehen, und irgendein verschrobener Teil meines Unterbewusstseins musste sie in mir mit diesem brennenden mittelalterlichen Crailsfelden assoziiert und eingeblendet haben; ein Traum in einem Traum, der die Requisite gefährdete, aber nicht die Akteure.
    Aber ich hatte keine Zeit, erleichtert aufzuatmen. Ich hatte keine Zeit, schützend den Arm um das Mädchen an meiner Seite zu legen. Ich hatte keine Zeit, irgendetwas anderes zu tun, als zu laufen, immer schneller und schneller zu laufen. Sie konnte kaum mit mir Schritt halten, stolperte ein paarmal beinahe, doch ich riss sie einfach weiter mit.
    Keine Ahnung, wohin, einfach nur weg. Weg von dem Rauch und der Wolke aus Asche, fort von dem Feuer, das überall brannte, wohin man auch sah — ein unersättlicher Moloch aus Licht und Hitze und purer, verheerender Energie, der durch die Stadt tobte und seine Wut darüber hinausschrie, dass es uns nichts anhaben konnte. Der völlig widersinnigen, aber zwingenden Logik eines Alptraums folgend, schützte mich dieses Wissen nicht vor der Angst, sondern schien sie eher noch zu verschlimmern. Ich konnte nichts anderes tun, als zu rennen, hinaus aus diesem Alptraum, weg von dem Feuer, das willkürlich und mit böser Absicht gelegt worden sein musste, kreuz und quer in dieser Stadt in einer Zeit, in der man Wäsche noch in Kübeln wusch und Nachttöpfe einfach aus dem Fenster leerte.
    Weg von den Menschen, die uns verfolgten.
    Sie schrien. Sie kreischten. Sie fluchten. Aber es war nicht die Angst vor dem Feuer, die sie vorantrieb, sondern Hass. Der Hass auf mich und das Mädchen an meiner Seite.
    Vielleicht nur auf sie.
    Ich wusste noch immer nicht, wer dieses Mädchen war.
    Ich wusste ja noch nicht einmal, wo sie herkam, aber als ich das nächste Mal den Kopf drehte und sie ansah, hatte sie nicht mehr Judiths Gesicht, sondern südländisch-exotische Züge, die mehr zu ihrem schwarzen Lockenhaar passten als Judiths Pausbäckchen. Sie war jünger, noch ein Kind, und in der Panik in ihren dunkel gewordenen Augen hatte sich ein Ausdruck von stummem Vorwurf gemischt, den ich nicht verstand, der sich aber trotzdem wie ein Messerstich tief in meine Brust bohrte. Anscheinend hatte der Regisseur dieses Kafka-Stückes, das in meinem Kopf ablief, beschlossen, die Schraube um eine weitere Drehung anzuziehen und es mir so richtig zu geben. Was immer diesem Mädchen angetan worden war, wovor immer es floh, es war meine Schuld. Es gab keinen Grund für

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