Nemesis 02 - Geisterstunde
In Stefans Schrei trat zur Angst plötzlich greller Schmerz – und dann ließ er auch noch seinen letzten Halt los!
Wie ein Stein stürzte er in die Tiefe, und im gleichen Sekundenbruchteil verstummte das Kreischen der Fledermäuse, und es wurde geradezu unheimlich still.
Nicht einmal das Geräusch seines Aufpralls drang aus der Tiefe herauf.
»Fledermäuse tun so etwas nicht! Niemals!« Ellen stampfte ihre Zigarette so wuchtig in den Aschenbecher, dass ein Funkenregen in alle Richtungen stob, und zündete sich sofort mit zitternden Fingern eine neue an.
»Nein«, sagte sie zum ungefähr zwanzigsten Mal, seit wir hereingekommen waren. »Niemals. So etwas tun Fledermäuse einfach nicht!«
Abgesehen von ihr hatte kaum jemand ein Wort gesagt, seit wir hereingekommen waren und erzählt hatten, was mit Stefan passiert war. Maria hatte entsetzt die Hand vor den Mund geschlagen und war geradezu erstarrt, und Carl starrte Judith und mich abwechselnd mit aufgerissenen Augen an. Selbst Ed hatte auf seine üblichen dummen Bemerkungen verzichtet und sah zum ersten Mal, seit ich ihn kennen gelernt hatte, so aus, als wäre er zumindest zu rudimentären menschlichen Regungen fähig, und vermutlich war auch Ellens hysterisches Getue im Grunde nichts anderes als ihre Art, den Schrecken zu verarbeiten.
»Verdammt noch mal, Fledermäuse tun so etwas einfach nicht!«, sagte sie noch einmal.
»Diese hier haben es aber getan«, antwortete Judith.
Nach dem, was wir gerade erlebt hatten, fand ich ihre Stimme fast unangemessen ruhig, aber es lag zugleich auch ein angespannter Unterton darin, der mich alarmierte. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Behauptung zu unterstreichen, und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
Ihre Fingerspitzen tasteten unwillkürlich über die dünnen, frisch verschorften Kratzer, die von ihrem eigenen Zusammenstoß mit den geflügelten Bewohnern der Burg kündeten. »Frag mich nicht, warum. Sie tun es eben.«
»Vielleicht sind die Viecher ja krank«, sagte Ed.
»Dieser dämliche Trottel. Musste ja unbedingt den Helden spielen. Und ich hatte gehofft, wir kämen endlich hier raus. Ich habe Schmerzen und gehöre in ein Krankenhaus.«
Ellens Blick nach zu schließen, gehörte er ganz woanders hin, aber sie behielt ihren Kommentar zu meiner Erleichterung für sich und zog nur nervös an ihrer Zigarette. Ihr Blick tastete fahrig über Judiths Gesicht und blieb für meinen Geschmack gerade eine Winzigkeit zu lange an den Kratzern auf ihrer Wange hängen. Für Judiths möglicherweise auch, denn sie hob nervös die Hand und fuhr noch einmal mit den Fingerspitzen über die dünnen roten Linien, wie um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht etwa angeschwollen waren oder sich auf irgendeine andere Weise zu verändern begannen.
Habe ich schon erwähnt, dass ich das intensive Bedürfnis verspürte, Ed die Zähne einzuschlagen?
Schließlich ließ sich Ellen auf einen der Plastikstühle sinken und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Einen Moment lang meinte ich, es feucht in ihren Augen schimmern zu sehen – ein menschliches Gefühl bei unserer unnahbaren Eiskönigin? Von Anfang an hatte sie sich mit Stefan am besten verstanden.
»Scheiße«, brummte Ed. »Dieser Idiot musste ja unbedingt den Helden spielen. Stefan, der Supermann, wie?
Das hat er jetzt davon!«
»Noch ein Wort«, sagte Ellen mit fast tonloser Stimme, aber auf eine Art, die Ed, der bereits zu einer weiteren dummen Bemerkung angesetzt hatte, nicht nur dazu brachte, sie vorsichtshalber hinunterzuschlucken und den Mund wieder zuzuklappen, sondern auch noch das allerletzte bisschen Farbe aus seinem Gesicht weichen ließ, »und du brauchst einen besseren Arzt als mich.«
Ed wäre nicht Ed gewesen, hätte er ihr nicht noch einen abschließenden giftigen Blick zugeworfen, aber er war –
wenigstens in diesem Moment – klug genug, es dabei zu belassen.
»Und ... und ihr seid sicher, dass er tot ist?«, fuhr Ellen nervös fort, nun wieder an Judith und mich gewandt.
»Nein«, antwortete Judith. »Ich meine, wir haben es nicht gesehen.«
»Woher wollt ihr es dann wissen?«, fragte Maria. »Er könnte genauso gut ...«
»... schwer verletzt irgendwo dort unten liegen«, unterbrach ich sie, schüttelte zugleich aber auch bedauernd den Kopf. »Das macht keinen Unterschied, weißt du?
Selbst wenn er noch lebt, hat er sich mindestens ein paar Knochen gebrochen, und wir können nichts für ihn tun.«
Ellen zog erneut so gierig an ihrer Zigarette,
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