Nemesis 02 - Geisterstunde
Beinen stehen würde.
»Ich gehe mit dir.« Maria rümpfte die Nase und wandte sich Judith zu. »Wo fangen wir an?«
Judith machte ein unschlüssiges Gesicht und trat einen Schritt näher an mich heran. »Ich ... sehe mir mit Frank und Carl den Turm an. Und die alten Lehrerunterkünfte«, sagte sie schließlich. »Das kleine Haus auf der anderen Seite vom Hof. Vielleicht gibt es von dort aus einen direkten Ausgang.«
Ihr Versuch, sich Fräulein Graumaus Superschlau auf diplomatischem Wege vom Halse zu halten, fiel weniger unauffällig aus, als sie sich wohl gewünscht hatte, und Maria bedachte sie mit einem entsprechend verletzten Blick.
Ich schüttelte erst zögernd, um Judith nicht zu kränken, dann aber doch entschieden den Kopf. Es hatte nichts mit ihr persönlich zu tun, ganz bestimmt nicht. Aber ich wollte allein sein. Dieses ganze verdammte Spukhaus machte uns alle langsam, aber sicher wahnsinnig. Keiner von uns war noch derselbe, der er gewesen war, als er sich vor gar nicht allzu vielen Stunden hierher begeben hatte. Ich kam längst nicht mehr mit mir selbst zurecht – wie sollte ich dann noch mit den anderen zu Rande kommen? Ich wollte die Aggressionen, die ich inmitten meiner unliebsamen, neu gewonnenen Verwandtschaft in der kleinen, spärlich eingerichteten Küche wieder in mir aufsteigen spürte, nicht versehentlich auf Judith abladen – schließlich war sie von allen diejenige, die mir am sympathischsten war. Ich war nie ein gewalttätiger Mensch gewesen, in meiner späteren Jugend eher jemand, der lieber eine nagelneue, noch eingeschweißte Big Box Luckies verschenkte, als es mit einem Nein auf einen Nahkampf ankommen zu lassen. Rückblickend war das vielleicht nicht unbedingt heldenhaft, aber den Birkenstockschuh des Weicheis ließ ich mir trotzdem nicht anziehen. Ich war nur ein friedliebender Mensch, was meine Freunde gerne mal ungerechtfertigterweise als Tendenz zur Harmoniesucht auslegten, und ich machte meinen Ärger lieber im Stillen mit mir selbst aus.
Manchmal warf ich ein paar Dinge kaputt oder trat gegen ein paar Mülltonnen, aber damit war mein Aggressionspotential gemeinhin schon erschöpft.
Hier und jetzt drohte sich das zu ändern: Mit jedem Zug verqualmter, staubiger Luft wuchs mein Wunsch, Ed endgültig und selbst für ihn unmissverständlich kaltzumachen. Konnte es nicht sein, dass er überhaupt nur noch lebte, weil er zu blöd war zu kapieren, dass er eigentlich längst tot war? Eine interessante Theorie, wie ich fand.
Ich brauchte Zeit für mich, und wenn es sich nur um eine halbe Stunde handelte. »Ich gehe allein«, entschied ich und nickte auffordernd in Ellens Richtung. »Geh du mit ihr. Und Carl bleibt bei Ed und leistet gegebenenfalls erste Hilfe, wenn er merkt, dass sein Herz eigentlich seit Stunden nicht mehr schlägt und auch seine dummen Bemerkungen nichts anderes sind als die letzten Zuckungen seiner Nerven im Mund- und Rachenbereich.«
»Wahrscheinlich eher letzte Hilfe«, grollte Zerberus.
»Das wollen wir doch mal sehen.« Ed ließ drohend seine Fingerknochen knacken und reckte Carl kampfeslustig die Stirn entgegen. »Seht euch nur alle in Ruhe um – wir zwei wissen uns schon gut selbst zu beschäftigen.«
»Kommt gar nicht in Frage«, wandte Ellen entschieden ein und feuerte mit den Augen eine Hand voll Blitze in meine Richtung ab. Offenbar fühlte sie sich mit Maria, die bereits an ihre Seite gerückt war, ausreichend bedient und legte keinen besonderen Wert darauf, zusätzlich von Judith, für die sie offenkundig ebenso wenig übrig hatte, begleitet zu werden. Wahrscheinlich war aber auch, dass es ihr in diesen Sekunden ähnlich erging wie mir und dass sie am liebsten allein losgezogen wäre. »Das ist viel zu gefährlich. Judith geht mit dir. Wir treffen uns in einer halben Stunde wieder hier«, fügte sie mit einem Blick auf ihre sündhaft teure Designer-Armbanduhr hinzu, neben der selbst mein (ebenfalls nicht preiswertes) eigenes Stück einen Uhrwerkinfarkt erleiden musste, und machte meine Hoffnung auf ein wenig Zeit und Raum für mich damit endgültig zunichte. Sie verschwand auf dem Flur und Maria folgte ihr wortlos.
Judith trat schweigend an meine Seite. Ich sah ihr an, dass sie sich allein durch meinen Versuch, sie abzuwimmeln, gekränkt fühlte, beschloss aber, nicht darauf einzugehen. Im Augenblick fühlte sich sowieso jeder von jedem irgendwie angegriffen, und Frauen an sich waren komplizierte Wesen, denen man besser ein wenig aus dem Weg
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