Nemesis 02 - Geisterstunde
jedes unnötige Risiko zu vermeiden.
Gewissenhaft überprüfte er jeden neuen Halt zunächst auf seine Tragfähigkeit, ehe er ihm sein Körpergewicht anvertraute. Manchmal verharrte er sekundenlang reglos auf einer Stelle, tastete mit Fingern oder Zehen nach Vorsprüngen und Fugen, bis er sicher war, sein Körpergewicht gefahrlos verlagern zu können, und einmal stieg er fast einen halben Meter weit wieder in die Höhe, bevor er es ein Stück weiter links erneut versuchte.
Allerdings war diese Vorsicht auch keineswegs übertrieben. Immer wieder lösten sich kleine Steine oder winzige Staub- und Mörtellawinen aus der Wand, und der strömende Regen tat ein Übriges, die Mauer in etwas zu verwandeln, das meiner Einschätzung nach mittlerweile keine Fünf, sondern vermutlich eine Fünfzig war.
Aber er kletterte beharrlich weiter. Langsam, aber mit den ruhigen, sicheren Bewegungen eines Mannes, der wusste, was er tat.
Als er die Hälfte der Wand hinter sich gebracht hatte, sah ich aus den Augenwinkeln einen Schatten. Ich fuhr so erschrocken zusammen, dass der Lichtstrahl einen Satz zur Seite machte, und suchte den Himmel über mir ab. Nichts. Alles, was ich sah, waren tief hängende, fast schwarze Wolken, aus denen es mittlerweile tatsächlich wie aus Kübeln goss. Wahrscheinlich spielten mir meine Nerven schon wieder einen Streich.
»Was ist mit dem Licht los?«, drang Stefans Stimme aus der Tiefe herauf. Obwohl er sich kaum fünf Meter unter mir befand, hörte es sich an, als wäre er einen Kilometer entfernt. »Frank!«
Ich beeilte mich, den Scheinwerferstrahl wieder richtig zu platzieren, und verfluchte mich selbst in Gedanken für meine Nervosität. Stefan schüttelte unter mir ärgerlich den Kopf, kletterte dann aber kommentarlos weiter.
»Ich glaube, er schafft es«, sagte Judith. Sie hatte ihren Platz in der anderen Lücke im Mauerwerk aufgegeben und war direkt neben mich getreten. Ich nickte nur stumm. Stefan hatte mittlerweile mehr als die Hälfte der Mauer hinter sich gebracht. Ich hielt den Scheinwerfer etwas schräger, um einen größeren Bereich der Wand unter ihm zu beleuchten, und stellte beunruhigt etwas fest, was ich vorhin schon einmal gesehen hatte, nur dass es mich jetzt deutlich mehr erschreckte. Vielleicht noch drei oder vier Meter unter Stefan ging die Burgmauer in den gewachsenen Fels des Berges über, aber die Wand darunter war fast ebenso steil.
»Ich hätte doch das Seil holen sollen«, murmelte ich.
»Welches Seil?«, fragte Judith. Ein dritter, noch lauterer Donnerschlag erscholl, und ich glaubte noch einmal einen Schatten wahrzunehmen, der rasch und lautlos über uns dahinschoss. Diesmal beherrschte ich mich. Der Lichtstrahl machte nur einen einzelnen kleinen Hüpfer und kehrte dann zitternd an seinen Platz zurück. Stefan hob kurz und unwillig den Blick, sparte sich aber zu meiner Erleichterung jeden Kommentar und konzentrierte sich lieber auf das Klettern.
»Welches Seil?«, wiederholte Judith ihre Frage.
»Carl hat ein Abschleppseil im Wagen«, antwortete ich widerwillig.
»Und ihr habt es nicht geholt?«, murmelte Judith.
»Männer! Das wäre euch wohl gegen den Stolz gegangen, wie?«
Ich schenkte ihr einen kurzen, ärgerlichen Blick. »Es wäre vor allem gegen den gesunden Menschenverstand gegangen«, antwortete ich, froh, dass mir diese Ausrede im allerletzten Moment noch eingefallen war. »Oder hast du schon einmal ein Abschleppseil gesehen, das zwanzig Meter lang ist?«
Judith sagte zwar nichts dazu, aber sie schwieg auf eine ganz bestimmte Art, die es mir angeraten erscheinen ließ, das Thema nicht weiterzuverfolgen.
Ein weiterer und unmittelbar darauf noch ein Donnerschlag rollten über den Himmel und Judith sah erschrocken nach oben. Wieder hatte ich das Gefühl, einen Schatten vorüberhuschen zu sehen, und diesmal gelang es mir nicht mehr, ihn als bloße Einbildung abzutun, denn praktisch im gleichen Augenblick zuckte auch sie erschrocken zusammen, und für eine oder zwei Sekunden breitete sich ein Ausdruck nackter Panik auf ihrem Gesicht aus. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle, allerdings nicht gut genug, um den raschen, nervösen Blick zu unterdrücken, den sie zu dem wuchtigen, türlosen Turm auf der anderen Seite des Hofes warf, bevor sie sich wieder vorbeugte und zu Stefan hinuntersah.
Ungeachtet des strömenden Regens und des mit erschreckender Schnelligkeit näher kommenden Gewitters hatte Stefan mittlerweile den allergrößten Teil der Mauer
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