Nemesis 02 - Geisterstunde
dein Gewicht hält.«
»Mach dir nichts draus«, sagte Judith. »Anscheinend hält er jeden hier für fett.«
Stefan war immerhin rücksichtsvoll genug, endlich die Lampe zu senken, als er antwortete. »Das ist kein Problem«, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Sandstein ist unangenehm zu klettern, aber nicht gefährlich, wenn man vorsichtig ist. Trocken würde ich der Mauer gerade mal eine Drei plus geben. Das würdest sogar du schaffen.«
»War das jetzt eine Beleidigung oder ein Kompliment?«, fragte ich.
Stefan grinste, war aber klug genug, nicht darauf zu antworten, sondern sah nur noch einmal über die Schulter hinweg nach unten. »Was mir viel mehr Sorgen macht als die Mauer, ist die Felswand da unten«, sagte er. »Der Berg ist ziemlich steil. Ein falscher Tritt, und ...«
»Vielleicht solltest du das besser lassen«, sagte Judith.
»Keiner hat etwas davon, wenn dir auch noch etwas passiert.«
»Außer Ed«, sagte Stefan. Er lachte. »Keine Sorge. Ich passe schon auf. Schließlich bin ich nicht lebensmüde.
Sobald ich unten bin, klopfe ich einfach an die nächstbeste Haustür und rufe unsere Freunde und Helfer von der Polizei.« Er drehte die Lampe so herum, dass der Lichtstrahl auf den Boden fiel, und reichte sie mir. »Du kannst mir leuchten, wenn ich hinunterklettere. Aber pass auf, dass du mich nicht blendest. Das Licht ist ziemlich stark.«
»Ach?«, fragte ich. Ein einzelner Donnerschlag rollte über den Himmel, leise und noch sehr weit entfernt, aber nicht nur ich fuhr erschrocken zusammen. Judith hatte ganz offensichtlich Mühe, sich zu beherrschen, und einen Moment lang irrte ihr Blick sichtlich am Rande einer Panik umher. Dann fing sie sich wieder und rettete sich in ein nervöses Lächeln.
»Also los«, sagte Stefan. Mit einer schwungvollen Bewegung zog er sich auf die Mauer hinauf, drehte sich herum und ließ die Beine auf der anderen Seite in die Tiefe sinken. Ich hörte, wie seine Turnschuhe über den feuchten Stein scharrten, und obwohl er immer noch zuversichtlich grinste, erschien zugleich auch ein Ausdruck von höchster Anspannung und Konzentration auf seinem Gesicht.
»Leuchte mir«, verlangte er.
Gehorsam trat ich an die nächste Lücke zwischen den Zinnen, beugte mich vor und richtete die Lampe so aus, dass der Strahl die Wand unter ihm beleuchtete, ohne ihn zu blenden. Stefan tastete geschickt mit Finger- und Zehenspitzen nach jedem noch so winzigen Spalt und Riss im brüchigen Mauerwerk. Hier und da rieselte trockener Mörtel aus den Fugen, und unter seinen Fingerspitzen löste sich ein abgebrochenes Stück des Sandsteins und verschwand lautlos in der Tiefe, als er mit ebenso routinierten wie vorsichtigen Bewegungen zu klettern begann; mein Unbehagen legte sich ein wenig. Stefan war vorsichtig, aber man hätte schon blind sein müssen, um nicht zu erkennen, dass er ein routinierter Bergsteiger war.
»Das Licht ein wenig tiefer«, verlangte er.
Ich gehorchte. Wie um seinem Befehl den nötigen Nachdruck zu verleihen, rollte ein zweiter, diesmal schon etwas lauterer Donnerschlag über den Himmel heran, und fast in derselben Sekunde klatschte ein einzelner eiskalter Regentropfen auf meinen Nacken. Ich unterdrückte einen Fluch und redete mir eine Sekunde lang tatsächlich ein, dass es wohl bei diesem einen Tropfen bleiben und uns das Gewitter vielleicht nur streifen würde; schließlich hatten wir nach den zurückliegenden Stunden beim Schicksal noch einiges gut. Aber anscheinend doch nicht so viel, wie ich gehofft hatte, denn diesem ersten Tropfen folgten ein zweiter und ein dritter, und Stefan war noch keine zwei Meter weit die Mauer hinuntergestiegen, als es richtig zu regnen begann. Nicht unbedingt in Strömen, aber doch heftig genug. Die Wand war binnen weniger Sekunden nass und der Scheinwerferstrahl verwandelte sich in einen dreieckigen Keil aus silbernen Fäden.
»Komm lieber zurück«, rief Judith. »Das ist viel zu gefährlich!«
Umkehren ist wahrscheinlich noch gefährlicher, dachte ich. Stefan reagierte auch nicht, was aber möglicherweise daran lag, dass er ihre Worte gar nicht gehört hatte. Das Geräusch des Regens war nicht einmal sehr laut – ein seidiges Rauschen, das aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien -, aber auf eine Weise intensiv, dass es fast jeden anderen Laut übertönte. Stefan hielt den Kopf gesenkt, damit ihm der Regen nicht direkt ins Gesicht klatschte, und kletterte nun deutlich langsamer, sichtlich darum bemüht,
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