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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
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finsteren Gangs, und das Bild vor meinen Augen begann sich zu verändern. Die schwarzen steinernen Mauern verwandelten sich in glänzenden Stoff, die Wände zogen sich dichter zusammen und die Decke schien sich ein Stück weit zu senken. Als ich Miriam erschrocken wieder ansah, hatte auch sie sich verändert: Auf einmal stand sie nicht mehr vor mir, sondern lag mehrere Meter weit unter mir, und ich hatte meinen Oberkörper weit vorgebeugt, um sie besser sehen zu können. Die weiche Haut ihres bildhübschen Gesichts war bleich wie eine Totenkerze, ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände auf der Brust gefaltet. Miriam lag auf dem Grund einer Grube, in einem offenen Sarg. Rings um die Grube herum lagen Blumen verstreut. Einige rote Blütenblätter waren auf ihren zierlichen Körper hinabgesegelt und hafteten nun wie dunkles Blut auf ihrem weißen Leichenhemd.
    Ich war nicht mehr allein mit ihr. Männer und Frauen in dunklen Kleidern hatten sich um ihr Grab herum versammelt, von überall her drang halb ersticktes Weinen und leises Schluchzen zu mir. Ich fühlte, dass meine Wangen und auch der Kragen des dunklen Hemdes, das ich trug, feucht waren. Auch ich hatte geweint, weinte immer noch.
    Ich wollte schreien, ihren Namen rufen, in die Grube zu ihr hinabspringen, sie an mich drücken und mit ihr darauf warten, dass sich der Sargdeckel über uns schloss. Ich bemühte mich nicht, gegen das Bedürfnis anzukämpfen, Miriam in den Tod zu folgen, mich mit ihr von all den fremden Menschen, die mich umringten, begraben zu lassen, aber eine fremde Macht ergriff Besitz von meinen Gliedern und trug mich fort von der Grube, an den Rand der Trauergemeinde, wo ich verharrte und abwartete, bis der Pfarrer seine Rede beendet hatte.
    Der Pfarrer?
    Nein. Das war kein Geistlicher, der am oberen Ende des Grabes stand. Er machte eher den Eindruck, auf die Trauergäste einzureden, als dass er eine christliche, respektvolle Rede über das tote Kind hielt. Er trug nicht die Kleider eines Kirchenmannes, sondern den teuren Anzug eines wohlhabenden Herrn, und aus seiner Stimme klang keine Trauer, sondern lediglich eine Spur von Bedauern.
    Es schien eher ihm selbst als dem Kind oder den Anwesenden zu gelten. Ich verstand seine Worte nicht, aber ich hörte auch nicht ein einziges Mal die Erwähnung ihres Namens. Miriam. Meine Miriam. War sie wirklich tot?
    Nein! Sie konnte, sie durfte nicht tot sein. Mein Blick wanderte verzweifelt suchend durch die Menge der Trauernden. Sie musste hier irgendwo sein. Gleich würde sie aus der Gruppe heraustreten, nach meiner Hand greifen und sich an mich schmiegen. Doch der Anstand, den unsere Eltern uns mit auf den Weg gegeben hatten, nötigte uns, der Rede dieses Mannes zu lauschen, der über irgendjemanden oder irgendetwas sprach, aber ganz bestimmt nicht über Miriam.
    Tatsächlich bildete sich auch im nächsten Moment eine Schneise zwischen den Dunkelgekleideten, als diese einen Schritt beiseite traten. Aber Miriam kam nicht. Stattdessen passierte eine schlanke, hochgewachsene Gestalt den frei gewordenen Weg zwischen den Trauernden. Der Mann ging nicht mit gesenktem Kopf. Aber ich glaubte, zumindest eine Spur von Schmerz in seinen Zügen zu erkennen.
    Es war kein Geistlicher.
    Es war Professor Sänger.
    Unmittelbar vor mir blieb er stehen, streckte die Hand nach meiner Schulter aus und lächelte ein knappes, unehrlich wirkendes Lächeln. »Du warst dabei«, sagte er leise, »aber es war nicht deine Schuld. Du hast alles richtig gemacht.«
    Dann nickte er mir kurz zu, ging weiter und ließ mich allein mit meinem Schmerz, meiner Trauer und der Gewissheit, dass ich kein Recht auf einen Platz außerhalb der Grube hatte, in der Miriams toter Körper lag.
    Ich empfand den physischen Schmerz, zu dem ich aus meinem Alptraum erwachte, nahezu als Erlösung, obgleich die Verkrampfung meiner Muskeln, das Brennen in meiner Schulter und das Pochen in meinem Kopf heftig genug waren, dass ich die Augen mit einem leidvollen Stöhnen aufschlug. Das Erste, worauf ich meinen wie von einem milchigen Schleier getrübten Blick richtete, war ich selbst. Ich lag auf einer harten, mit gräulichem Leder bespannten Bahre. Meinen Kopf hatte man auf ein weißes Kissen gebettet, eine Zudecke gab es nicht, und ich fror in dem dünnen, blütenweißen Engelhemdchen, das nebst einem Paar durchscheinender Strümpfe, die mir bis zu den Oberschenkeln reichten, das Einzige war, was ich trug.
    Thrombosestrümpfe? Das erste und zugleich letzte Mal,

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