Nemesis 06 - Morgengrauen
halten konnte, ohne vermisst zu werden. Zerberus, den Komparsen dieser Welt, den dickleibigen Wirt, den niemand brauchte, auf den man auf allen Kontinenten verzichten konnte. Aber was war ich?
Ich war mindestens ebenso überflüssig auf dieser Welt.
Ich hatte mir Mühe gegeben, mich nie einsam zu fühlen.
Mein Stolz hatte es nicht zugelassen. Ich hatte von mir verlangt, Einsamkeit als Freiheit und Freiheit als Glück zu betrachten. In Wirklichkeit war es eine tief in mir verankerte Angst vor Versagen und vor Enttäuschungen gewesen, die mich vor jeglicher Art von Bindung immer wieder in die vermeintliche Freiheit flüchten ließ. Ich war schon immer ein Feigling gewesen. Sogar vor mir selbst war ich immerzu davongelaufen.
»Und?«, fragte von Thun mit leichter Ungeduld im Unterton.
»Ich ... ich werde einen Erben benennen«, antwortete ich und blickte an dem Alten vorbei ins Leere. Die Monitore waren ausgeschaltet worden. Von Thun leckte ein weiteres Mal an seiner Bleistiftspitze, rückte seinen Block ein wenig zurecht und sah mich, bereit zum Diktat, erwartungsvoll an.
Gut, anscheinend gab es niemanden, dem ich wichtig war. Aber gab es einen Menschen, der mir etwas bedeutete?
Ich hatte in den vergangenen Jahren wie ein Getriebener gelebt, wie ein Streuner, wie ein Landstreicher de luxe.
Rastlos, von einer ständigen Unruhe erfüllt, war ich umhergezogen, hatte es nie länger an einem Ort ausgehalten als ein paar Monate, wenn es hochkam, auch mal ein halbes Jahr. Ich hatte nicht nur kein Bedürfnis danach gehabt, Wurzeln zu schlagen, sondern mich regelrecht davor gefürchtet, zur Ruhe zu kommen, mich niederzulassen, mich auf die Menschen um mich herum einzulassen und andere hinter meine Fassade blicken zu lassen. Es war eine Flucht gewesen, die mein Leben lang angedauert hatte, eine Flucht vor Beziehungen, vor Vertrauen, vor mir selbst
– vielleicht auch vor etwas, was irgendwo tief in mir schlummerte und sich meinen Erinnerungen entzog?
Wenn dem so war, dann war diese Flucht hier und jetzt endgültig gescheitert. Dieser ominöse Professor Sänger, dessen Lieblingsschüler ich angeblich gewesen war, hatte mich eingeholt.
Jedenfalls gab es keine Verwandten, die mich vermissen würden, wenn ich in dieser Klinik (oder was auch immer das hier war) starb. Meine Freundschaften waren recht oberflächliche und kurzlebige Angelegenheiten gewesen, eigentlich nur bessere Bekanntschaften, Leute, mit denen ich mich ein paar Mal mehr oder minder zufällig getroffen und ein paar Feten geschmissen hatte, um mich dann wieder von ihnen zu verabschieden und ins Ungewisse aufzubrechen.
Was war mit Judith? In dieser Nacht war sie mir wie eine Erscheinung vorgekommen, ich hatte sie gebraucht und zum ersten Mal nicht unter dem Gefühl gelitten, gebraucht zu werden. Aber wenn ich ehrlich zu mir war, musste ich zugeben, dass ich sie im Grunde genommen überhaupt nicht kannte. Ich wusste nicht einmal ihren vollständigen Namen!
Sylvia vielleicht ... Sie hatte mich wirklich geliebt.
Unsere Beziehung war eine eher einseitige gewesen, und eine kurzfristige noch dazu. Sylvia hatte eine Beziehung mit mir gehabt, und ich hatte nicht dagegen protestiert. Sie war hübsch gewesen, sie hatte Sex-Appeal gehabt und es ehrlich mit mir gemeint, das hatte ich die ganze Zeit über gewusst. Aber genau das war es gewesen, was mich von ihr fortgetrieben hatte, wieder in eine neue Stadt, in eine andere Kultur sogar. Ich hatte gespürt, dass ich Gefahr laufen würde, sie zu lieben, wenn ich mich nicht zeitig von ihr löste. Das Gefühl, an dem gnadenlosen Vertrauen, mit dem sie mich überschüttete, zu ersticken, war einfach zu stark gewesen. Ich wollte mich nicht emotional binden, nicht einmal an sie. Ich wusste, dass sie nach mir gesucht hatte, nachdem ich einfach abgehauen war, ohne ein Wort zu sagen oder auch nur einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Mit den wenigen Habseligkeiten, die ich besaß, war ich einfach aufgebrochen und weitergezogen, bei Nacht und Nebel und ohne einen letzten Gruß. Ein anderes Land, eine andere Stadt, eine andere Bar, hinter der ich bediente, und neue, flüchtige Freunde. Ja, Sylvia hatte mir wirklich etwas bedeutet. Ich hatte das Gefühl gehabt, überhaupt nicht weit genug vor ihr davonlaufen zu können. Ich hatte nicht gebraucht werden und die Verantwortung nicht tragen wollen, die ich mir selbst abverlangt hätte, wäre ich lange genug bei ihr geblieben, um mich tatsächlich in sie zu verlieben. Und nun wusste
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