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Nemesis 06 - Morgengrauen

Nemesis 06 - Morgengrauen

Titel: Nemesis 06 - Morgengrauen Kostenlos Bücher Online Lesen
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wenn sie nicht gerade als eine Mischung aus Zelle und Krankenzimmer missbraucht wurde? Hatte ich nicht selbst von hier aus zugesehen, wie Ellen sich eigenhändig den Leib aufgeschnitten hatte, während eine ganze Schar von Ärzten und Schwestern ihr dabei tatenlos zusah? Ich wusste noch immer nicht, was man mit mir angestellt hatte, während ich geschlafen hatte.
    Und wer dabei alles zugesehen hatte.
    »Ich kenne mich mit diesen Dingen nicht so gut aus, Herr Gorresberg«, antwortete der Advokat ausweichend.
    »Das sollten Sie lieber den Professor fragen. Man hat bei Ihnen eine Kernspinto...« Von Thun verzog die Lippen und machte ein Gesicht, als hätte er in einen faulen Apfel gebissen. »Dieses Fachchinesisch der Mediziner kann ich mir einfach nicht merken. Dabei habe ich ein humanistisches Gymnasium besucht. Damals war es ganz selbstverständlich, dass man Latein und Griechisch lernte«, sagte er in entschuldigendem Tonfall. »Aber mein Gedächtnis ist heute wie ein Sieb. Ich kann mir dieses neue Fremdwort einfach nicht merken. Aber ich könnte Homer übersetzen, dessen bin ich mir ...«
    »Kernspintomographie«, unterbrach ich den Redefluss des Alten, ehe er zum Beweis für seine Behauptung übergehen und damit beginnen konnte, altgriechische Verse herunterzurasseln. »Ist das der Fachausdruck, den Sie sich nicht merken konnten?«

»Ja, der ist es.« Von Thun wirkte ein wenig verlegen.
    »Das hat man mit Ihrem Kopf gemacht. Vor und nach der Operation wegen der Schussverletzung. Sie haben ein großes Geschwür in Ihrem Gehirn. Einen bösartigen Tumor. An den Bildern konnte man erkennen, wie sehr er sich in den zwei Stunden der Operation ausgebreitet hat.
    Er ist wie ein Polyp, der seine Arme immer weiter in Ihr Gehirn ausstreckt.«
    Oder wie ein Alien, schoss es mir durch den Kopf. Ein Alien, der innen an meiner Schädeldecke schabte und an meinem Verstand nagte, der nicht nur an der Oberfläche meines Charakters kratzte, sondern genüsslich immer weitere gewaltige Löcher in ihn hineinzufressen versuchte, wo, wenn sie überhaupt wieder verheilten, eine Unzahl hässlicher dicker Narben zurückblieb. Ein ungebetener Gast in meinem Kopf, der sich durch die Windungen meines Gehirns fraß, der in rasendem Tempo wuchs und immer fester, immer schmerzhafter gegen meine Schädelplatten drückte und mir immer wieder das Bewusstsein raubte.
    Der Alte log nicht. Er sagte nur, was er gesehen und gehört hatte, und was er sagte, war nur einleuchtend.
    Sänger hatte ihn geschickt, damit er mit mir ein Testament aufsetzte, und er hatte es ernst gemeint. Möglicherweise beobachtete er mich in diesen Sekunden tatsächlich, verfolgte mit perverser Neugier jeden meiner Gesichtszüge, jedes meiner Worte. Er interessierte sich für mein Sterben.
    Ich hatte mir den Tod noch vor wenigen Minuten herbeigewünscht. Nun aber verspürte ich ein überwältigendes Verlangen nach Leben, nach mehr Leben, nach einem längeren Leben. Ich wollte alt werden, ein alter Greis wie Sänger und von Thun. Sänger hätte es verdient, so früh und so qualvoll zu krepieren, aber doch nicht ich!
    Ich hatte niemandem etwas zuleide getan, ich war immerzu ein bescheidener Mensch gewesen, ein Einzelgänger, der zwar keine Ansprüche erfüllte, aber dafür auch keine stellte. Ich wollte leben, und ich wollte mich ändern.
    Ich wollte mit Judith zurück in die Staaten gehen und eine Familie mit ihr gründen, wichtig sein, gebraucht werden, lieben und geliebt werden. Verdammt, auf einmal hatte ich so schrecklich viel vor, plötzlich fielen mir so unendlich viele Dinge ein, die ich in meinem Leben noch hätte tun wollen oder sollen!
    Aber ich wusste, dass ich sterben würde. Es war ungerecht, einfach nur unendlich ungerecht, aber von Thun sagte die Wahrheit, und ich würde sterben. Noch vor ihm und vor Klaus Sänger, dem Menschenschinder, der tausend Tode vor mir verdient hätte. Meine Resignation verwandelte sich in Wut und meine Fassungslosigkeit und Hoffnungslosigkeit in eine trotzige Gier nach Leben. Ich sollte also einen Erben benennen. Es gab nicht viel, was ich besaß, aber für die wenigen Dinge, die ich hatte, für meine Möbel, meinen Mietvertrag, meine Anlage, meine Schallplattensammlung und für die paar Kröten, die noch auf meinem Sparbuch lagen, musste ich jemanden bestimmen, dem ich all das von Herzen gönnte.
    Aber wen?
    Ich erinnerte mich daran, mich insgeheim über Carl lustig gemacht zu haben, der seine Kneipe ohne weiteres tagelang geschlossen

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